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Weniger Platz im TV-Programm: Vom Fernsehen befreit

Was nach diversen Programmreformen vom klassischen Dokumentarfilm übrig bleibt. Eine Apologie.

„Das dokumentarische Format boomt“, schreibt der Regisseur Andres Veiel in der Einleitung des Buches „Dokumentarfilm. Werkstattberichte“. Sogar ins Vorabendprogramm hätten es Doku-Serien geschafft. Allerdings weist Veiel auf einen Trugschluss hin: Der erzählerisch eigenwillige Dokumentarfilm, „der die zeitliche Länge eines Fußballspiels bis zur Halbzeit überschreitet“, habe es sehr schwer: Um immer schmalere Programmplätze in öffentlich-rechtlichen Sendern kämpfen immer mehr Ideen und Regisseure.

Veiel hat eine freundliche Formulierung für einen Umstand gefunden, der auch anders empfunden werden kann: Programmreformen und grassierende Mutlosigkeit von öffentlich-rechtlichen Redakteuren machen es dem Dokumentarfilm nicht nur schwer, sie nehmen ihm die Luft zum Atmen. Als jüngst die Arte-Programmreform vorgestellt wurde, sorgten sich Repräsentationsgremien von Dokumentarfilmern sofort angesichts der sinkenden Zahl der Produktionen. Dabei sind immer weniger Programmplätze nur ein Merkmal. Es gibt auch weniger messbare Entwicklungen: Die Fernsehlandschaft reduziert ihre erzählerischen Mittel.

Anruf bei einer Producerin in einer gut etablierten Kölner Produktionsfirma. Sie arbeitet schon länger mit den Arte-Vorgaben: „Während bis vor kurzem der Sonntag als familienfreundliche Bastion behandelt wurde, also wenig bis keine Konflikte behandelt werden durften, ist jetzt alle Tage Sonntag“, sagt sie. Die Orientierung an der Quote pflügt das Programmschema um: Statt ernsthafter Themen geht es jetzt um schöne Bilder und nette Stimmungen. „Am Ende macht die Programmreform aus einem Kulturkanal ein Unterhaltungsformat.“ Die Welt als Wille und Vorstellung führt dann zu Produktionsreihen, die sich gerne um die Zahl Fünf gruppieren: Arte produziert Filme über fünf französische Strände, fünf große und fünf kleine Tiere, fünf Orte an der Ostsee und etliches mehr. Das Banale muss man nicht schälen, hoffen die Programmmacher wohl.

Dokumentarfilme gehen, schreibt der Filmtheoretiker Bill Nichols, ein Bündnis mit der historischen Welt ein, indem sie diese kopierend abbilden. Andererseits lassen sie Raum für „ein spezifisches Gefühl von Magie und Staunen“, die ein Filmemacher durch Auswahl und Montage von Bildern erzeugen kann. Ein Blick ins öffentlich-rechtliche Fernsehen erzeugt ein ganz anderes Staunen: Die technische und ästhetischen Entwicklung von Ausdrucksmitteln und Interpretationsformen im Dokumentarfilm stehen offensichtlich in umgekehrter Proportionalität dazu, was gezeigt wird. Je mehr Magie und Staunen technisch möglich wäre, desto archaischer scheinen die dramatischen Vorstellung vieler Redakteure zu sein. Dokumentarfilmer kennen das, sie erhalten Ablehnungen von Redaktionen, weil diese im Kern die klassische „Heldenreise“ fordern: Ein Protagonist soll etwas erleben, sich wandeln und den Zuschauer zum Erzählziel führen. Pech, wenn es sich bei der Geschichte um eine Straße handelt, entlang derer die gesamte Misere eines wirtschaftlich aufstrebenden Entwicklungslandes aufzeigbar wäre: Leider ließ sich kein Protagonist finden, der zugleich rabiater Großgrundbesitzer, hoffnungsvoller Lastwagenfahrer, verarmter Tagelöhner und bedrohte Nonne war.

Zufällig stellt Thomas Heise am Tag der Arte-Verlautbarung in Berlin seine neue Arbeit mit dem Namen „Sonnensystem“ vor. Ein Nachteil, hatte die Producerin aus Köln gesagt, seien Filmstoffe, die aus abgelegenen Regionen berichten wollen. „Uns sind von öffentlich-rechtlichen Formaten schon Themen mit der Begründung abgelehnt worden, Osteuropa sei so spannend wie das Testbild.“ Der Erzählort von „Sonnensystem“ liegt in den schroffen Anden im nördlichen Argentinien. Die Protagonisten sind indigene Bewohner eines Dörfchens.

Auch ist der Begriff „Protagonist“ hier ein anderer als im TV: Es wird niemand konsumfreundlich nach Leben und Wirken befragt, kein „Voiceover“ erklärt, was der Zuschauer gerade sieht. Der Film blickt dem Sattler über die Schulter, isst mit der Familie und schaut dem kleinen Auflauf um den umgestürzten Trecker zu. „Sonnensystem“ ist ein beobachtender Dokumentarfilm, ein Genre, dessen Vordenker Frederik Wiseman sich meist sogar weigert, den Verlauf von Zeit abzukürzen, und deshalb so lange dabei bleibt, bis der Protagonist die Kartoffel zu Ende geschält oder die Tänzerin die Phrase durchgeprobt hat. Wiseman hat in seinen fast 40 Filmen niemanden interviewt. Die Pointe dazu wäre vielleicht, dass er jahrzehntelang seine Arbeiten für PBS, den einzigen gebührenfinanzierten Sender der USA, produzierte.

„Sonnensystem“ beobachtet Alltagsroutine und Naturschauspiel und bleibt wesentlich sprachlos: Heise spricht kein Spanisch, und so ist Sprache nur ein gemurmeltes Randphänomen, beim Gottesdienst vor dem Altar, kurze Rufe beim Einfangen der Kühe, kehlige Laute, zerbröselnde Sätze. „Sonnensystem“ verortet Menschen in ihrer Umwelt, blickt genau hin, wenn sie im Winter durch die ausgedörrte, karge Landschaft gehen, und zeigt den Kontrast, wenn im Sommer dieselben Hänge grün und der Dorfplatz überschwemmt ist.

Dabei entfalten sich Magie und Staunen nicht durch blitzende Kameratechnik, saubere Fahrten, spektakuläre Schwenks, mit der Arte-Autoren durch Tallinn rasen. Vielmehr läuft die Kamera eine Weile einem Jungen hintendrein, dieser verliert sich dann im Kramladen. „Sonnensystem“ blickt auf Tagesrhythmen, religiöse Rituale oder Mühen des Alltags. Ruckelig geht es zu, handgemacht. Genau so, wie vielleicht die Horrorvorstellung eines öffentlich-rechtlichen Redakteurs aussieht.

Anruf bei Thomas Heise. Er habe gar nicht erst versucht, „Sonnensystem“ dem Fernsehen anzubieten, kein Sender kauft eine freie Produktion. „Überlegen Sie mal: Nichts, was nicht mit Fördermitteln oder Fernsehgeldern produziert ist, wird gesendet.“ Kontrolle ist wohl das Stichwort. Heise kommt in Schwung, Deutschland sei ein Fernsehland, gewöhnt, Geschichte als Fernsehformat zu verdauen. Heises Unabhängigkeit fußt auf dem Gedanken, das Thema ins Zentrum der Arbeit zu rücken und das Format zu ignorieren: Er läuft der Fernsehwirtschaft nicht hinterher. „Der Dokumentarfilm muss aus dem Fernsehen befreit werden“, sagt Heise, und: „Wirklichkeit lässt sich nicht formatieren.“

Bei „Sonnensystem“ muss das Publikum also den Assoziationen von Thomas Heise folgen und stolpert dabei nicht über Zuspitzungen und die Suche nach Fallhöhe. Der sympathische Amateurismus der Kamera stemmt sich gegen die glatten Bildästhetiken, die der Betrachter im Kopf trägt. Der Film ist alleine schon ein Gegenpunkt zum Fernsehen, weil man nach dem Ende nachdenken und nachlesen möchte. Und vielleicht gerade keine Lust auf die bestimmt folgende Unterhaltungssendung hat. „Sonnensystem“ wäre, in einem Satz, gutes Fernsehen.

Lennart Laberenz

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