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Medien: Wenn die Wahrheit zu banal ist

Doku rekonstruiert Kennedy-Mord, doch die Amerikaner interessiert nur der Mythos

Nichts ist schwerer zu ertragen als Banalität. Der Mensch sehnt sich nach Sinn und Tragik. Prinzessin Diana stirbt bei einem Autounfall? Das ist zu einfach. Uwe Barschel nimmt sich mit Tabletten das Leben? Da steckt mehr dahinter. Es kann nicht sein, was nicht sein darf: Das ist die Grundüberzeugung all jener, die sich durch die simple Macht der Geschichte betrogen fühlen. Sie glauben an einen Zusammenhang zwischen großen Ereignissen und starken Kräften. Das Ergebnis sind Verschwörungstheorien.

In der kollektiven Psyche der Amerikaner ragen drei Daten heraus: der 7. Dezember 1941, als Pearl Harbor von Japanern angegriffen wurde, der 22. November 1963, der Tag der Kennedy-Ermordung, und „Nine-Eleven“, der 11. September 2001. Diese Daten haben Amerika geprägt. Durch Pearl Harbor und „Nine-Eleven“ wurden sie sich ihrer Verwundbarkeit bewusst. Der Tod von John F. Kennedy dagegen konfrontierte sie mit ihrer eigenen Gesellschaft. Kein äußerer Feind hatte den Präsidenten erschossen, sondern der Nachbar von nebenan, ein leicht spleeniger, aber durchaus gewöhnlicher Mann. Zwei Tage später erschoss ein zweiter, durchaus gewöhnlicher Mann den Attentäter, der nun also nicht mehr über die Tat verhört werden konnte. Kann das sein? Es kann. Darf das sein? Nein. Es verletzt den Stolz vieler Menschen, wenn ihre seelischen Erschütterungen banale Ursachen haben. Daher überrascht es nicht, dass sich um drei der prägendsten Daten der jüngeren amerikanischen Geschichte diverse Theorien ranken. Fast die Hälfte aller Amerikaner glauben bis heute, dass Lee Harvey Oswald, ein 24-jähriger Lagerarbeiter, Hintermänner hatte. Einige deuten in Richtung CIA, andere gen Moskau oder Havanna. Die Gerüchte halten sich hartnäckig. Einen beträchtlichen Anteil daran hat Oliver Stones Kinofilm „JFK“ aus dem Jahre 1991. Darin rollt ein fiktiver Staatsanwalt aus New Orleans den Fall noch einmal auf. Eine Fülle von Ungereimtheiten und Vertuschungen tritt zu Tage. Muss es einen zweiten Attentäter gegeben haben? Warum sind Akten vernichtet worden und werden bis heute geheim gehalten? „JFK“ hat die Wahrnehmung einer ganzen Generation, die die Kennedy-Ermordung nicht bewusst erlebt hat, geprägt.

Unter den vielen TV-Sondersendungen zum 40. Jahrestag der Kennedy-Ermordung ragt eine heraus. Sie lief, mit dem schlichten Titel „The Kennedy Assassination – Beyond Conspiracy“, am Donnerstagabend auf ABC. Moderiert von Peter Jennings, haben die Produzenten zwei Stunden lang alle Fakten rekonstruiert. Von dem Ereignis selbst gibt es nur eine einzige Filmaufnahme. Sie stammt von Abraham Zapruder, einem Geschäftsmann aus Dallas, der die entscheidenden Szenen auf einer 8-Millimeter-Kamera, in Farbe und tonlos, festhielt. Dieses Video, sämtliche Fotos, Zeugenaussagen und die Autopsieberichte wurden ausgewertet. Mehr als siebzig Experten wurden für die Recherche befragt, darunter ehemalige Agenten von CIA, FBI und KGB sowie die ermittelnden Polizeibeamten aus Dallas.

Das Ergebnis ist beeindruckend. Mit Hilfe einer dreidimensionalen Computeranimation wird genau gezeigt, wie das Attentat geschah. Alle Einwände gegen die offizielle Version dürfen spätestens jetzt als widerlegt gelten. Oswald handelte allein. Er gab von einem Eckfenster im sechsten Stock der Schulbuchverwaltung drei Schüsse ab, einer verfehlte den Präsidenten, zwei trafen ihn. Auch Jack Ruby, ein Nachtklubbesitzer und fanatischer Kennedy-Verehrer, handelte allein, als er zwei Tage später den Attentäter erschoß. Das ist, dank ABC, nun bewiesen worden.

Doch die Gegenwart verdrängt die Vergangenheit. Das Schicksal einer aktuellen mythologischen Figur stellt die Erinnerungen an die Kennedy-Ermordung in den Schatten. Seit Mittwoch dominiert Michael Jackson die US-Programme. Alle Sender planen um, bereits fertige Sendungen werden gekippt. Auf jedem Kanal läuft der „King of Pop“. Kennedy ist Geschichte. Neben Jackson verblasst alles andere. Wer sich am Donnerstag durch die Nachrichten zappte, konnte froh sein, wenn er von den Anschlägen in der Türkei erfuhr.

Malte Leming

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