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Medien: Wie viel wusste Albert Speer?

Die Speer-Biografin Gitta Sereny widerspricht der These, die Breloer im Film „Speer und Er“ aufstellt

Mit „Speer und Er“ ist es der deutschen Filmbranche, nach dem ebenso ambitiösen „Untergang“, zum zweiten Mal in kurzem Abstand gelungen, einen Spitzenfilm herzustellen, wenn auch dieses Mal als Fernsehsendung. Es ist denkbar, dass weder „Untergang“ noch „Speer und Er“ vor Jahren möglich gewesen wären. Vor allem, weil die deutschen Filmemacher, wenn auch seit den späten 50ern mit dem Nazithema beschäftigt (obgleich nicht annähernd so obsessiv wie die englischamerikanische Filmindustrie), die Person oder Persönlichkeit Hitlers eher mieden. (Syberbergs monumentaler Hitler-Film, 1979 ein Triumph in England und Amerika, konnte sich in Deutschland kaum durchsetzen.)

Der geniale Titel „Speer und Er“ gibt dem Film einen Rahmen, verlangt vom Filmemacher aber auch, der Versuchung von grenzenloser Ausdehnung zu widerstehen. Breloer zog diese Grenzen, indem er den Film, der Speers 50 Jahre mit Hitler beschreibt – 14 davon, während der Diktator lebte – auf vier Teile beschränkte.

Es sind Breloer mehrere Meisterstücke gelungen, aber zwei stehen voran: Das Wichtigste war, die „Kinder“ der zeitgeschichtlichen Figuren für sein Projekt zu gewinnen: Albert Speer jr., Hilde Speer- Schramm und Arnold Speer, die alle drei sehr verschiedene Gefühle für ihren Vater zeigen. Außerdem Speers Neffe Wolf und Fritz Wolters, Sohn von Speers Jugendfreund Rudi Wolters, den die Erinnerungen seiner Kindheit schwer belasten. Sein Vater widmete sich Speer 20 Jahre lang mit fast unvorstellbarer Treue und auf Kosten seiner eigenen Familie; unter anderem versteckte er Speers geheime Briefe aus Spandau. Nachher (allerdings als schon enorme Meinungsverschiedenheiten sie trennten) ließ Speer ihn, ohne seine unglaubliche Hilfe mit einem Wort in seinen Büchern zu erwähnen, fallen. Fritz Wolters zuckt im Film mit den Achseln: „Da brauchte er ihn nicht mehr.“

Diese fünf reifen Menschen so zum Sprechen zu bringen, und ihre moralische Qualität, die in all ihrer Verschiedenheit hervorragt, bringen dem Projekt eine Authentizität und Tiefe, die künftige Dokumentarfilme schwer erreichen werden.

Das zweite Meisterstück aber ist Breloers Wahl seiner Hauptdarsteller, Sebastian Koch als Speer und Tobias Moretti als Hitler. Es kann nicht leicht gewesen sein, einen Schauspieler zu finden, der Speer physisch ähnelt und seine komplizierte, weil einerseits so charmante, andererseits verschlossene Persönlichkeit so subtil darstellen kann. Koch hat nicht nur die richtige Haltung für Speer. Er hat, was noch bewundernswerter ist, den „anderen“ Speer, den wenige kannten, verstehen gelernt; er hat durchschaut, wie Speers glattes Gesicht sich durch Empfindungen änderte.

Ein Glücksgriff auch Moretti: Wie war es möglich, innerhalb einiger Monate in Deutschland zwei außergewöhnliche Schauspieler – Moretti und Bruno Ganz – zu finden, die einen vollkommen verschiedenen Hitler darstellen können? Die Figur – eben weil Hitler so zweiseitig war, monströs und menschlich – ist offensichtlich ein Geschenk für Schauspieler. Wir hatten vor ein paar Jahren auch in England, in einem Theaterstück über Speer nach meinem Buch über ihn, einen erstaunlichen Hitler. Es regten sich dort, genau wie in Deutschland nach dem „Untergang“, entrüstete Stimmen über die menschliche Seite, die der Autor David Edgar Hitler einräumte, genau wie es jetzt die Autoren dieser deutschen Filme tun. Moretti entwickelt die Figur Hitlers mit den kleinsten Bewegungen und ab und zu mit dem zärtlichsten österreichischen Akzent – die Haare stehen einem zu Berge.

Allerdings, für mich – vielleicht weil ich Speer gut kannte und die Beziehung zwischen ihm und Hitler, die Breloer ein wenig banalisiert (nie hätte Hitler Speer mit Albert angeredet, nie hat er sich ihm oder anderen physisch genähert) zu verstehen glaube – gibt es einiges zu beanstanden.

Ich kann Breloer seine leidenschaftliche Abneigung gegen Speer nicht übel nehmen, wenn ich sie auch, viel älter als er und Speer wie gesagt kennend, nicht teile. Wie hätte es für einen moralischen Deutschen von Breloers Generation anders sein können, dem Mann gegenüber, den Hitler zweifellos, wie er ihm einmal sagen ließ, „lieb hatte“ und der mit seinem Organisationstalent den Krieg um mindestens ein Jahr verlängerte?

Aber es ist schade, dass dieses Vorurteil den Ton des Films bestimmt. Der Speer, der Hitler nach ’45 öffentlich verwarf und seine (wenn auch nur „allgemeine“) Schuld anerkannte; und der dann für seine „Erinnerungen“ von allen früheren Freunden verachtet wurde und nachher ein einsames Leben führte, wird im Film ungerechterweise dafür genauso als arroganter, geltungsbedürftiger Streber verurteilt wie gerechterweise vor ’45 als Nazi. Natürlich war er, wie die meisten Deutschen seiner Generation, Nazi. Natürlich war er wie die meisten von ihnen Antisemit, wie sie heute auch noch herumlaufen. Aber in Breloers 4. Teil, dem „Nachspiel – Die Täuschung“ wird er, im Zusammenhang mit der Berliner Wohnungsmarktpolitik, spezifisch als Initiator fataler antijüdischer Aktionen dargestellt, was er absolut nicht war. Nicht weil er Juden gern hatte. Nein – weil sie ihm egal waren.

Eigentlich – und das war die Tragödie von Speer als Mensch, Tragödie vor allem für seine Frau und Kinder – waren ihm alle egal. Außer Hitler, der sein Leben wurde und blieb. Meine Gespräche mit Speer gingen über vier Jahre, bis er 1981 starb. Er war ehrlich, besonders in seiner fast besessenen Verzweiflung über den Judenmord, den er, trotz meiner Versuche, ihn davon auf andere Gebiete, die wir besprechen mussten, abzulenken, immer wieder aufbrachte. Der Speer, den wir in dem Film merkwürdige Phrasen leiern hören, war nicht der denkende, fühlende, ja traurige Mensch, der mir so lange gegenüber saß und den Breloer offensichtlich nicht erfasste oder anerkennen konnte.

Wie für so vieles seines Tuns während der Nazizeit, kann man Speer für seine Wohungsmarktpolitik in Berlin zwischen September ’38 und August ’41 nicht verteidigen. Aber erwägen wir kurz das Ganze im Kontext – was Breloer leider nicht genug getan hat. Im Juni 1936 bekam Speer von Hitler den Auftrag, Berlin als „Germania“ neu zu errichten. Die antijüdischen Nürnberger Gesetze, deren Veröffentlichung im September ’35 begonnen hatte, prägten die Atmosphäre dieser Zeit.

Das Problem der Verantwortung von Spitzenpersonen von Staaten ist – in Zeiten des Irak-Kriegs – sehr lebendig. Und diese Frage ist der eigentliche Kernpunkt dieses Films, der, vergessen wir es nicht, Anspruch darauf erhebt und, ja, erheben soll, ein Geschichtsfilm zu sein. Denn was ist er sonst?

In dem Film trifft Speer drei Entscheidungen, von denen zwei dokumentarisch bewiesen sind: Erstens, im September 1938, dass Tausende von jüdischen Mietern von Großwohnungen in Berlin „entmietet“ werden, um Platz zu machen für Tausende von Bürgern, deren Wohnungen abgerissen werden sollen, um den Neubau von Berlin zu ermöglichen. Für die evakuierten jüdischen Mieter plante Speer ursprünglich, eine Judensiedlung am Stadtrand zu bauen – eine unbestreitbare Andeutung seiner moralischen Einstellung zu diesem Zeitpunkt. Diesen Plan aber verschwieg der Film, wahrscheinlich weil er mit Kriegsbeginn scheiterte. Speers zweiter pragmatischer Vorschlag dann, hören wir, ist, dass die „entmieteten“ Juden mit anderen Juden in kleineren Wohnungen zusammenziehen sollen. Möglicherweise wurde dies verordnet, um ihre spätere Erfassung zu vereinfachen, aber das wissen wir nicht. Es ist nicht dokumentiert.

Jetzt aber kommt, so der Film, Speers dritte Entscheidung, und zwar die Deportation der Berliner Juden. Für die macht Breloer Speer verantwortlich, obwohl es keine Beweise gibt. Angeblich leitete Speers Generalbauinspektion jüdische Wohnungslisten (die uns gezeigt werden) an die Gestapo weiter. Das bemerkenswerte Buch der Historikerin Suzanne Willems „Der Entsiedelte Jude“, das Breloer als Wegweiser für diese Behauptung diente, ist gründlicher: Da lernen wir, dass alle diese fürchterlichen Ereignisse über das Justizministerium und die Polizei gingen, die die Wohnsitze aller Juden kannten. Haben also diese Behörden die Wohnungslisten der Juden der Bauinspektion übergeben? Es ist wahrscheinlich, aber es wird uns nichts darüber gesagt.

Einige von Breloers Gesprächen mit Sachverständigen sind ergiebig, weil nachdenklich. In anderen aber – vielleicht, weil Filme zur Vereinfachung gezwungen sind – droht die Geschichte des Dritten Reichs fraglich zu werden. Besonders wenn sie uns zu sagen scheinen, dass Speer nicht nur die „Entmietung“ der Berliner Juden vorschlug, was wahr und natürlich verwerflich ist. Sondern dass dies, „die Entjudung der ganzen Stadt zur Folge hatte“ und – da wird es einem schwindelig – dass er 1941 verantwortlich war für „die Deportation der Juden Berlins“.

Die entsetzliche Judenpolitik der Nazis war natürlich viel komplizierter. Speer schlug zwar in seinem amoralischen Ehrgeiz die „Entmietungen“ in Berlin vor. Aber mit dem schrecklichen Schicksal der 75 000 entmieteten Juden hatte Speer wahrscheinlich nichts zu tun: Die grauenhafte und – man kann es glauben oder nicht – auch vor Speer geheime Entwicklung der Judenpolitik war da schon in vollem Gang. Bevor die „Vernichtung“ auf dem Plan stand, wurden schon 60 000 Juden aus Wien und Tausende von Balten zur Zwangsarbeit nach Polen deportiert. Die Deportation der Berliner Juden begann Mitte August 1941, also nach Informationen von Joachim Fest in seinem Speer-Buch, nachdem Speers Generalbauinspektion ihre Verantwortung für die „Umsiedlung“ der Berliner Juden an Goebbels abgegeben hatte, der schon lange die radikale Lösung der Deportationen vorgeschlagen hatte. Goebbels übergab das Ganze sofort an SS und Gestapo. Leider ist dies nicht die Abfolge, die Breloer zitiert: Laut Breloer war es „Speers Behörde, auf deren Erfassungsmaterial die Gestapo angewiesen war, um Berlins Juden zu deportieren“. Und Breloers letztes Wort über Speer, eine arge Übertreibung, ist unwürdig für Deutschlands führenden Dokumentaristen. „Er“, sagte Breloer zu Speers Verleger und einstigem Freund Wolf Jobst Siedler, der leider eifrig nickend beistimmt, „war nicht ,verstrickt‘ in den Terror, nicht ein ,Rädchen‘, wie Sie und Fest so oft sagen. Er war der Terror.“

Aber das mitfühlende Befragen der Kinder, die Pausen ihres Nachdenkens respektierend, die ihnen Zeit für so schwierige Antworten lassen, ist die andere Seite der Münze. Das ist Breloers Meisterwerk, und niemand wird das vergessen können.

Im Nürnberger Prozess waren zehn der Angeklagten zum Tod durch den Strang verurteilt worden, als der Tag von Speers Urteil herankam. „Wir sind normal zur Schule gegangen“, sagt die nachdenklich-warme Hilde. Ihre Stimme klingt plötzlich kindlich. „Und dann hat mein Bruder Albert mich abgeholt, und er hat mir gesagt, ,er wird nicht gehängt’.“ Keines der Kinder hat Speer je über das Dritte Reich befragt. „Wir blieben stumm, wenn er immer davon redete“, sagen sie. „Wir nannten es ,Denkmalpflege‘.“

Hitler, merkwürdigerweise, hatte Kinder gerne, nicht wie Breloer sagte, nur als Nachwuchs. Auf seinem Spaziergang in Berchtesgaden hielt er oft beim Speerhaus an. „Er trank Kakao und spielte Verstecken mit ihnen“, erzählte mir vor Jahren die Haushälterin. „Er versteckte sich unterm Tisch.“ Ein anderer Hitler. Speer war – und es war traurig – außerstande, sich an seinen Kindern zu erfreuen. Erstens hatte er nie Zeit für sie. Und dann, außer kurz in seinem letzten Jahr und außerhalb der Familie, wusste er nicht, wie zu lieben. Sein Sohn Arnold spricht Bände, wenn er, von Breloer gefragt, warum er Speers letztes Auto weiter so sorgfältig hütet, verlegen lächelnd antwortet: „Um geliebt zu werden, auch wenn er tot ist.“

Gitta Sereny führte über vier Jahre Gespräche mit Speer. Sie waren Grundlage für ihre Biografie über Albert Speer, die ein Welterfolg wurde. Bei Goldmann ist die deutsche Ausgabe gerade neu aufgelegt worden.

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