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Medien: Wir brauchen Max Mutzke

Der singende Abiturient zeigt der Welt, dass Deutschland mehr kann, als wehleidig zu sein

Deutschland braucht ein Erfolgserlebnis. Das Jammertal, das wir durchschreiten, zieht sich, und jeder neue Tag mehrt unsere Hoffnungslosigkeit. Hans Eichel wirkt so, als sei Finanzminister ein Beruf, dem man seinem schlimmsten Feind nicht wünschen mag; Rudi Völlers Rumpelfußballer tun alles, um uns die Vorfreude auf die Europameisterschaft auszutreiben; auf den Sachbuchbestsellerlisten triumphieren lähmende Titel wie „Deutschland – Abstieg eines Superstars“, „Die Krankheitserfinder“ oder „Ist Deutschland noch zu retten?“, und der letzte Siegertyp, den wir haben – Michael Schumacher – , fährt, bei Lichte besehen, auch nur im Kreis.

Einer nur schenkt uns Zuversicht: Ein 22-jähriger Abiturient aus dem Südbadischen signalisiert, dass wir nicht alle Hoffnung fahren lassen müssen. Ganz Deutschland blickt heute Abend nach Istanbul, Gerhard Schröder auch, denn der gescholtene Kanzler, der in letzter Zeit immer so wirkt, als habe er mit dem ganzen Schlamassel nichts zu tun und nichts am Hut, weiß, dass sich symbolische Siege in Sport und Kunst in politische umwandeln lassen. Max Mutzke, von Stefan Raab entdeckt und mit dem soulig-respektablen Lied „Can’t wait until tonight“ ausgestattet, heißt der Lichtstreifen am Horizont.

Mutzke ist wie Sie und ich, oder zumindest so ähnlich. Er ist kein Blender, kein Prolet, kein Fatzke, keines dieser synthetischen Produkte, mit denen uns die Gemeinschaftstäter Privatfernsehen und Boulevardpresse in den vergangenen Monaten belästigt haben. Max sieht durch und durch normal aus; sein Bühnenauftritt – das Wort „Performance“ verbietet sich – ist schlicht, sein Haarwuchs spärlich, seine Garderobe unscheinbar, seine Freundin sympathisch, seine Stimme gut … kurzum, Max Mutzke wird den Ländern Europas zeigen, dass Deutschland mehr kann, als Wehleidigkeit an den Tag zu legen und die Maastricht-Kriterien zu verfehlen.

Noch vor wenigen Wochen saß unser Max – diese Vertraulichkeit sei gestattet – in einem deutschen Schulzimmer und schrieb sein Deutschabitur, elf Seiten über Goethes Seelendrama „Iphigenie auf Tauris“. Das ist, für die Nicht-Theatergänger unter Ihnen, ein sehr humanes Stück, das sich jungen Menschen schwer erschließt. Max Mutzke stellte sich dieser Aufgabe klaglos, und Iphigenies Satz „Du siehst mich hier voll Sorgen und Erwartung“ trifft die deutsche Gemütslage besser als jede schnöselige Friedrich-Merz- Analyse.

Die Chancen für Max stehen gut. Der „Grand Prix Eurovision de la Chanson 2004“, den die Globalisierten nun „Eurovision Song Contest“ nennen, bietet ein Angebot, das das neue Durcheinander in Europa spiegelt und mehr Quantität als Qualität verheißt. Die EU-Erweiterung machte vor dem Euro-Pop nicht Halt; erstmals musste ein Halbfinale her, um die schlimmste Spreu von weizenähnlichen Gewächsen zu trennen. Der Osten Europas ist im Kommen, keine Frage, doch was Polen, Mazedonien, Kroatien, Serbien- Montenegro (obwohl …) oder Bosnien- Herzegowina auftischen, will nicht recht gefallen. Der erfahrene Grand-Prix-Kaffeesatzleser Jan Feddersen resümiert folglich schonungslos: „Da ist zu viel Amselfelder in der Luft!“

Die Hochkonjunktur der baltischen Ländern ist, trotz Immanuel Kants 200. Todestag, Schnee von gestern; alle verabschiedeten sich bereits im Vorfeld. Ihr Abschneiden in den vergangenen Jahren war ohnehin übertrieben gut, oder wer erinnert sich noch an das Lied der heiteren Lettin Marie N., die sich 2002 geschickt entkleidete und deshalb gewann?

Auch Malta und Zypern dürfen sich jetzt als EU-Staaten bezeichnen, was ihnen beim Song Contest wenig nützen wird. Beide werden keine Lorbeeren ernten: die Zyprioten, weil sie ein Langweilerliedchen ins Rennen schickten, das von der Bleibeaufforderung an einen ungenannten Gefährten schluchzt, und die Malteser, weil sie – selber schuld! – auf eine zwanghaft heitere Produktion Ralph Siegels setzen, was der Formel „Methusalem-Komplott“ ganz neuen Sinn gibt.

Nein, 2004 wird das Jahr des alten Europas sein. Denn auch die Türken wissen, dass sich Überraschungssiege nicht so leicht wiederholen lassen; ihr Beitrag „For real“ erkennt „Face the truth“ – eine Zeile, die offenkundig nach Angela Merkels strengem Türkei-Besuch gedichtet wurde. Gewiss, die Bedeutung des alteuropäischen Liedguts darf nicht überschätzt werden: Irland, einst Triumphator des Wettbewerbs, tritt mit einem sterbensfaden Stück an, das selbst durch das beliebte Entschuldigungsetikett „Ballade“ nicht zu retten ist. Auch Frankreich gibt sich eine Spur zu weinerlich, und die Freude darüber, dass Monaco wieder in den Reigen des Sängerwettstreits zurückkehrte, verhinderte nicht, dass das ökologisch einwandfreie „Notre planète“ die Latte des Halbfinales klar riss.

Ein Wort zu Österreich: Das eigenwillige Alpenland überraschte im letzten Jahr mit einem Nonsense-Beitrag, der von „Haserln“ und anderem Getier handelte und rätselhafterweise Platz sechs belegte. Um diesen guten Eindruck zu zerstören, brauchen unsere österreichischen Freunde jetzt nur drei Minuten: „Du bist“ heißt das deprimierend schlichte Lied der Combo „Tie Break“, dem ich immerhin meine Lieblingsverse 2004 verdanke: „Du bist der Stern am Sternenzelt und alles andre Schöne auch.“

Wer gewinnt also? Von einem Fachmann erwarten Sie zu Recht Hilfestellung vor einem anstrengenden Fernsehabend: Belgien ist vorne mit dabei, Großbritannien (das Null-Punkte-Land vom letzten Jahr) vielleicht auch, Norwegen und Griechenland womöglich – und Schweden ganz bestimmt. Lena Philipsson heißt die famose Interpretin, die „postfeministisch frohe Weiblichkeit“ (Jan Feddersen) verkörpert. Mit 38 Jahren zählt sie dankenswerterweise nicht zu den industriell gefertigten Boy- und Girl-Group-Ablegern, und dass ihr schmerzensreiches Liebeslied „It hurts“ kein musikalisch-intellektueller Meilenstein ist, macht gar nichts. Von der powervollen Lena Philipsson vorgetragen, klänge auch die „ADAC-Motorwelt“ verlockend. 30 Jahre nach Abbas „Waterloo“-Sternstunde setze ich auf Schweden – und danach kommt Max aus Krenkingen. Platz zwei wäre ja auch schon Balsam auf unsere Wunden. Schreiben Sie mir nicht, wenn es wider Erwarten anders kommt. Experten zeichnen sich oft dadurch aus, dass sie ihrer Zeit voraus sind.

Eurovision Song Contest: 21 Uhr, ARD

Rainer Moritz

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