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1968: Wir waren die Guten!

Demokratisierung der Gesellschaft und offener Diskurs: 1968 war eine politische und kulturelle Zeitenwende.

1968 ist zu einem politischen Mythos geworden, der nicht vergehen will. Das zeigt der andauernde Kampf um die Deutung dieses Datums. Schon allein die Tatsache, dass der Aufbruch dieser Jahre die europäischen Metropolen ebenso erfasste wie Tokio, Mexico City und San Francisco, verleiht ihm eine historische Dimension. Es greift offenkundig zu kurz, die Rebellion gegen das „Establishment“ je nach Standpunkt als Aufstand der Nazi- Kinder gegen ihre Väter oder gerade umgekehrt als Wiederkehr brauner Traditionen unter roten Fahnen zu interpretieren, wie das in der deutschen Debatte nicht erst seit Götz Aly geschieht. 1968 war ein globales Ereignis, eine politische und kulturelle Gezeitenwende: Die Welt danach war eine andere als zuvor.

Das gilt für den Westen wie für den Osten. In der Tschechoslowakei hatte mit dem Prager Frühling eine friedliche Revolution begonnen, die den „realen Sozialismus“ in den Grundfesten erschütterte. Sie wurde durch die Panzer des Warschauer Pakts erstickt. Der sowjetische Einmarsch begrub die Hoffnungen auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Insofern gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen 1968 und 1989: die Niederschlagung des Prager Frühlings mündete in den Kollaps des sowjetischen Imperiums.

Anders im Westen. Offene Systeme verwandeln Opposition in Innovation. So wurde „1968“ zu einem mächtigen Innovationsschub für die westlichen Gesellschaften, von der Reform des Bildungssystems bis zur Herausbildung neuer Formen politischer Partizipation, der Emanzipation der Frauen und dem Siegeszug der Popkultur. Wie so oft, klafften das Selbstverständnis der Akteure und ihre gesellschaftliche Wirkung auseinander. Nimmt man die revolutionäre Rhetorik der Wortführer zum Maßstab, sind die „68er“ gescheitert. Betrachtet man die kulturellen und politischen Veränderungen, die von dieser Bewegung angestoßen wurden, war sie höchst erfolgreich.

Zu den fundamentalen Veränderungen, die von 1968 ausgingen, gehört die Globalisierung der politischen Öffentlichkeit. Auch wenn die außerparlamentarische Opposition in Frankreich, Italien, Deutschland oder Amerika jeweils von ihrem nationalen Kontext geprägt war, handelte es sich doch um eine kosmopolitische Bewegung. Der Vietnamkrieg, die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die Kämpfe gegen das Kolonialsystem im südlichen Afrika, die Ereignisse in der Tschechoslowakei und die chinesische Kulturrevolution empörten oder begeisterten Hunderttausende von Aktivisten, sie beschäftigten die Phantasie und wurden Anlass zum Handeln. Zugleich ermöglichten sie den linken Gruppen, sich als Teil einer weltweiten revolutionären Bewegung zu sehen. Das war zwar eine Fiktion, aber sie beflügelte ganz ungemein. Eine Flut von Publikationen befasste sich mit internationalen Fragen, Verbindungen wurden geknüpft, internationale Kongresse veranstaltet. 1968 wurde zum Ausgangspunkt für eine globale politische Öffentlichkeit, in der fern liegende Ereignisse nicht nur passiv beobachtet, sondern als „eigene Sache“ verstanden werden.

Gleichzeitig erweiterte sich die Sphäre politischer Öffentlichkeit durch neue Medien und Aktionsformen. Eine Flut von selbst produzierten Flugblättern, Zeitungen, alternativen Radiosendern und Verlagen durchbrach das Monopol der etablierten Medien. Fotografie und Fernsehen spielten eine entscheidende Rolle. Einerseits waren die Bilder von den Kampfplätzen dieser Welt Treibstoff für die Aktionen zu Hause; zugleich ging es darum, selbst Bilder zu erzeugen, die politische Botschaften transportierten. Sit Ins, Demonstrationen, Blockaden, Happenings, Open Air Festivals waren ausgesprochen bildmächtige Aktionsformen. Es würde eine eigene Ausstellung lohnen, die Macht der Bilder dieser Jahre zu untersuchen – Bilder, die um die Welt gingen und sich tief ins kollektive Bewusstsein eingruben.

Eine zweite lange Welle von Veränderungen bestand in der Erweiterung der Sphäre der Demokratie. Als in Westeuropa auf den Trümmern des zweiten Weltkriegs die Demokratie neu aufgebaut wurde, verstand man darunter wenig mehr als ein Gehäuse staatlicher Institutionen. Die Forderung nach Demokratisierung von Schulen und Universitäten, nach Mitbestimmung in Unternehmen und nach politischer Beteiligung auch jenseits von Wahlen verschob die Sphäre der Demokratie weit in die Gesellschaft. Dazu gehört auch die Vielzahl selbstverwalteter Projekte und die lawinenartige Verbreitung von Nichtregierungsorganisationen, die seit Ende der 60er Jahre die politische Landschaft verändert haben. Tugenden wie Zivilcourage, Einmischung von unten und Bürgerinitiativen wurden natürlich nicht 1968 erfunden; aber erst danach wurden sie in Westeuropa zu Leitbildern der politischen Kultur. Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung hatte dabei einen gewaltigen Einfluss – wie die neuen Aktionsformen, die aus den USA nach Europa schwappten. Es ist nicht vermessen zu sagen, dass der politische Aufbruch jener Jahre entscheidend zur Herausbildung einer selbstbewussten Zivilgesellschaft beigetragen hat, die auf Augenhöhe mit dem Staat agiert.

Eine dritte weitreichende Veränderung liegt in der Politisierung des Privaten. „Das Private ist politisch“ war einer der zentralen Slogans von 1968. Die Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen, Männern und Frauen wurden ebenso zum öffentlichen Thema wie Fragen der Sexualität, des Konsums, der Wohnformen und des Lebensstils. Damit wurde ein mächtiges Potenzial individueller Emanzipation freigesetzt. Häusliche Gewalt war kein Tabu mehr, die patriarchale Geschlechterordnung wurde ausgehebelt, neue Freiräume für die persönliche Lebensführung geöffnet, sexuelle Minderheiten erstritten ihre Gleichberechtigung. 1968 wurde zum Katalysator der neuen Frauenbewegung und des schwulen Coming out.

Gleichzeitig führte die Politisierung des Privaten auch in Untiefen. Die Zurschaustellung des Privatlebens von Politikern ist noch eine der harmloseren Folgen der Verwischung des Unterschieds zwischen öffentlicher und privater Person, politischer Sphäre und Privatsphäre. Auch die Herausbildung einer „Identitätspolitik“, die aus Merkmalen wie Ethnizität, Geschlecht oder sexueller Orientierung kollektive Zugehörigkeiten und Ansprüche ableitet, verdankt sich der politischen Aufladung der persönlichen Sphäre. Wird diese Tendenz auf die Spitze getrieben, führt sie zu einer Partikularisierung des politischen Raums. Identitätspolitik steht im Konflikt mit der Idee einer Republik gleicher und freier Bürger, die ihren politischen Willen in einem offenen Diskurs der Meinungen herausbilden.

Wer die emanzipatorischen Seiten und das demokratische Potential von „1968“ verteidigt, sollte zu den abstoßenden Zügen der Revolte nicht schweigen. In die idealistischen Motive mischten sich schon früh Überheblichkeit, Intoleranz, Größenwahn und die Lust an der Demütigung der „bürgerlichen Autoritäten“. War der Ausgangspunkt von „68“ noch die Einforderung der Ideale der Demokratie, steigerten sich die radikalen Fraktionen der Bewegung in einen „Antiimperialismus“, der selbst autoritäre Züge annahm. Je radikaler die Avantgarde des Protests in ihrer Systemopposition wurde, desto stärker entfernte sie sich von den libertären und emanzipatorischen Impulsen der Bewegung. Das galt für Europa noch mehr als für die USA. Es ist nicht zufällig, dass „SDS“ hier für den „Sozialistischen Studentenbund Deutschlands“ stand und dort für „Students for a Democratic Society.“

Weshalb der Antikapitalismus für weite Teile der europäischen Protestbewegung wichtiger wurde als die Demokratie, ist eine interessante Frage. Es greift zu kurz, die Wendung zum Sozialismus mit populären theoretischen Irrtümern zu erklären, obwohl sie sicher eine Rolle spielten – insbesondere die Gleichsetzung von Kapitalismus, Krieg und Faschismus. Tatsächlich war die Idee der liberalen Demokratie in Kontinentaleuropa kaum verankert. Ihr kurzer Frühling während der bürgerlichen Revolutionen Mitte des 19. Jahrhunderts mündete in die Restauration des Obrigkeitsstaats. Die demokratischen Verfassungsstaaten, die auf den Zusammenbruch der alten Ordnung 1918 folgten, hatten kein stabiles Fundament; die politische Landschaft Europas wurde von antidemokratischen Bewegungen und totalitären Ideologien geprägt. Die Emanzipationsbewegung der Industriearbeiter stand unter sozialistischen Vorzeichen, ebenso der Widerstand gegen den ersten Weltkrieg. Auch die antikolonialen Bewegungen in der „Dritten Welt“, die ab 1945 an Kraft gewannen, traten zumeist unter sozialistischer Flagge auf. Die intellektuellen Leuchttürme, an denen sich die oppositionellen Studenten orientierten – Benjamin, Adorno, Marcuse, Sartre, Bloch – waren Großmeister der Kapitalismuskritik; das galt erst recht für ihre politischen Ikonen von Rosa Luxemburg bis Che Guevara und Salvador Allende. Dagegen waren zeitgenössische liberale Theoretiker wie Popper oder Hayek allenfalls Außenseiter. Ohne sich dessen bewusst zu sein, bewegten sich die Linksradikalen von 1968 mit ihrer Verachtung der liberalen Demokratie und ihrem Antikapitalismus in einer unheiligen Tradition der Abwehr der westlichen Moderne.

Die Protestbewegung von 1968 war nie ein einheitliches Phänomen, und ihre Zerfallsprodukte strebten in alle Himmelsrichtungen: Hippies und Lebensreformer, maoistische Gruppen und orthodoxe Linke, feministische Projekte, Bürgerinitiativen, Dritte- Welt-Gruppen, Pazifisten und Militante. Ein Teil der Bewegung driftete in die konspirative Scheinwelt des bewaffneten Kampfs und hinterließ eine breite Blutspur. Man redete sich ein, ein neuer Faschismus stehe vor der Tür, und dagegen seien alle Mittel erlaubt. Es ist kein Zufall, dass die giftigen Blumen des „bewaffneten Kampfs“ am heftigsten in zwei post-faschistischen Ländern blühten. In Deutschland wie in Italien gab es keine Tradition einer zivilen politischen Kultur; hier wie dort hegte die militante Linke einen Generalverdacht gegen die politischen Institutionen und stellte sich in die Kontinuität des „antifaschistischen Widerstands“, der präventive Gewalt gegen die Rückkehr faschistischer Herrschaft legitimierte.

Zwischen dem roten Terror und anderen Fraktionen der radikalen Linken dieser Jahre gab es keine chinesische Mauer. Dennoch wäre es absurd, in einer Art teleologischem Rückschluss die ganze „68er Bewegung“ zur Vorgeschichte des linken Terrorismus zu erklären. Für Millionen junger Leute blieb 1968 ein großer Aufbruch. Während sich die einen in revolutionären Zellen und kommunistischen Kaderparteien verschanzten, gründeten die anderen antiautoritäre Kinderläden, Reformschulen, alternative Verlage und Zeitungen, freie Theater, Menschenrechtsgruppen, Frauenhäuser und Bürgerinitiativen, bemühten sich um eine alternative Medizin oder machten sich auf den langen Marsch durch die Parteien und Parlamente.

Die Entdeckung einer Politik des Alltags, die praktische Verbesserung der Gesellschaft von innen heraus, eine weltbürgerliche Haltung, eine Leidenschaft für politische Öffentlichkeit, ein anhaltendes soziales Engagement, das Insistieren auf Selbstbestimmung und demokratische Partizipation: vielleicht ist es das, was nach allen Irrungen und Wirrungen von „1968“ bleibt. Es wäre nicht wenig.

Ralf Fücks

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