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Meinung: „40 Männer haben gegen eine Wand gepisst, Maman!“

Pascale Hugues, Le Point

Meine Kolumne erreicht Sie diesmal von den stillen Ufern des Baltikums. Anders als vermutlich Sie weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, ob Deutschland gewonnen hat oder Costa Rica. Ich bin geflüchtet. Vor Fußbällen und vor Männern.

Fangen wir mit den Bällen an. Es sind nämlich keineswegs die schwarz-rot-goldenen Flaggen an den Berliner Balkonen, die mir Sorge bereiten. Ich finde sie eher unschuldig, diese bescheidenen patriotischen Signale, die im Wind flattern und Schöneberg aussehen lassen wie einen Vorort von Pittsburgh zur Zeit des Irakkriegs. Was mir Angst macht, sind die Bälle. Im Zimmer meiner Söhne habe ich 20 Stück gezählt. Von riesigen Lederfußbällen bis hin zu kleinen Schaumstoffkugeln. Und dabei habe ich noch nicht einmal die ganzen zusammengeknüllten Stoffreste, kleinen Brotkügelchen und all die anderen improvisierten Ersatzbälle mitgezählt, die ich regelmäßig unter den Schränken finde. Mein ganzes Leben wird von Bällen überrollt. Gestern erst blitzte mir beim Aufklappen meines Handys ein Fußball entgegen, wie ein Springteufel aus der Kiste. „Anpfiff zur WM!“, hieß es in der Begleit-SMS. Letzte Woche im KaDeWe erlebte ich im Glasfahrstuhl einen wahren Albtraum: Die Tür öffnete sich, und eine Verkäuferin schob einen riesigen Einkaufswagen voller WM-Fußbälle in die Kabine. Wie eine erdrückte Fliege klebte ich zwischen dem fünften und sechsten Stock an der Glaswand, vor mir die Bälle, unter mir gähnende Leere.

Und dann die Männer. Echte Männer. Seit Wochen lebe ich als einzige Frau inmitten eines männlichen Harems. Die Haremsherren tragen Namen wie Arne Friedrich, Timo Hildebrand, Fabien Barthez und Zinedine Zidane. Sie haben gegelte Haare, pralle Muskeln und verschwitzte Trikots. Sie spucken. Sie brüllen. Sie singen mit der Hand auf dem Herzen die Nationalhymne. Sie werden in einem Schuhkarton verstaut und vermehren sich wie Kaninchen, werden auf dem Schulhof getauscht, am Kiosk gekauft und mit Leidenschaft gesammelt. Fußball-Sticker sind für die kleinen Jungs von heute das, was früher Pin-ups waren. Fußball ist eine Bastion der Männlichkeit – auch wenn die gleichberechtigungsbesessenen deutschen Frauen sich inzwischen auch dieser letzten No-Go-Area annähern und der androgyne David Beckham Verwirrung stiftet. Als meine Söhne zum ersten Mal mit ihrem Vater ins Berliner Olympiastadion gingen, kamen sie vollkommen begeistert zurück: La Ola, das Geschrei, all diese Rituale hatten sie unheimlich beeindruckt. Aber das Beste, der wahre Höhepunkt des Nachmittags, der fand erst nach dem Spiel und nach vielen Litern Bier statt: „40 Männer, Maman! 40 Männer haben gegen eine Wand gepisst!“

Fußbälle und Männer, das ist das große Trauma meiner Pubertät. Mein erster Freund war ein Engländer mit blauen Augen. Ich war 16. Er lebte in Leicester. Eines Nachmittags nahm er mich mit zum Fußball. Während die Jungs wie Tiger auf dem Rasen rotierten, hockten ihre Freundinnen wie kichernde Hühner am Rand des Stadions und lackierten sich die Fingernägel lila. Nach zwei Stunden war mir das Ganze zu blöd. Ich ging zu Fuß nach Hause. Mein erster Liebeskummer.

Aber Kinder haben nun mal die Kraft, das Leben ihrer Eltern zu verändern. Vergangenen Samstag fuhr ich mit meinem jüngsten Sohn ins tiefste Steglitz. Die Stars von Schalke 04 hatten angekündigt, auf dem Parkplatz eines Möbel-Discounters Autogramme zu geben. Mein Kleiner war furchtbar aufgeregt, er zitterte geradezu vor Spannung, während rundherum der Regen auf den Asphalt klatschte. Unter einem Zelt saß ein gealterter Schönling mit blauen Augen und quarkweißer Haut, der mit schlaffer Hand Autogramme gab. „Das ist nicht Asamoah!“, murmelte mein aufmerksamer Kleiner. „Die Schalke- Mannschaft macht Strandurlaub, das haben die Jungs sich verdient“, antwortete mit verkniffener Miene Klaus Fischer, der verblühte Gelsenkirchener Golden Boy der 70er Jahre. Ich schlug den Kragen meiner Regenjacke hoch. Gerade einmal zehn Grad warm war es in Steglitz. Auf der Heimfahrt im Auto krakeelte der Kleine: „Das war sooo geil! FC Schalke!“ Ich wusste nicht, ob er versuchte, seine Enttäuschung zu kaschieren, oder ob er wirklich zufrieden war. Aber ich merkte, dass mir das Herz schmolz. Und ich wusste, dass an diesem verregneten Nachmittag im tiefsten Steglitz mein Schicksal besiegelt worden war. Am Sonntag werde ich im Morgengrauen aufstehen, um Buletten und Kartoffelsalat zu machen. Dann werde ich tagelang kichernd am Rand des Stadions sitzen. Und, ja, ich werde mir die Fingernägel lila lackieren.

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