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60 Jahre Verfassungskonvent: Freiheit in Gefahr

Vor 60 Jahren erarbeitete der Verfassungskonvent den Entwurf für das Grundgesetz der Bundesrepublik. Heute geraten die Grundrechte mehr und mehr in Gefahr: Deutschland wird zum Überwachungsstaat. Ein Kommentar von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Vor genau 60 Jahren tagte auf der bayerischen Insel Herrenchiemsee der Verfassungskonvent. In nur 13 Tagen wurde ein Entwurf erarbeitet, der wenig später im Wesentlichen für das Grundgesetz übernommen wurde. Aus unserer heutigen Sicht wissen wir: Es war kein Provisorium, vielmehr schuf der Verfassungskonvent ein „Transitorium“, wie es Theodor Heuss formulierte. Ein „Transitorium“ zwischen dem Zustand von Freiheit ohne Einheit und der ungeteilten Einheit in Freiheit.

Der Verfassungskonvent beschränkte sich nicht darauf, Fehler früherer Verfassungen zu vermeiden. Er war vor allem bemüht, die unbedingte Einhaltung der Verfassung durch die Staatsgewalt zu sichern. Als eigene Durchsetzungsinstanz schuf er das Bundesverfassungsgericht und stattete es mit einer Kompetenzfülle aus, die kein anderes Gericht dieser Art aufweisen kann. Neben Kompetenzstreitigkeiten in Blick auf die föderale Ordnung kann das Bundesverfassungsgericht über Streitigkeiten zwischen Staatsorganen, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, Grundrechtsbeschwerden jedes einzelnen und eine Fülle anderer weiterer Fragen entscheiden.

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts war seit Bestehen der Bundesrepublik beständig bemüht, den Bürgern zumindest einen unantastbaren Kernbereich individueller Lebensgestaltung zu sichern, der der Einwirkung des Staates entzogen war. Diese Tradition der Grundrechte und des Grundrechtsschutzes ist heute massiv gefährdet: 2008 ist die Bundesrepublik Deutschland in der Gefahr, sich in einen autoritären Schutz- und Überwachungsstaat zu verändern.

In einer ungeahnten Verbissenheit und Maßlosigkeit hat sich die Politik der inneren Sicherheit seit etwa zehn Jahren immer wieder über wichtige und für die freiheitliche demokratische Ordnung unerlässliche Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger hinwegzusetzen versucht. Diese Politik führte zu einer Serie von blamablen Niederlagen und Zurechtweisungen durch das Bundesverfassungsgericht, die in der deutschen Nachkriegsgeschichte beispiellos ist.

Akustische Wohnraumüberwachung, Ausdehnung der Befugnisse des Zollkriminalamtes zur heimlichen Überwachung des Brief- und Telefonverkehrs, niedersächsisches Polizeiaufgabengesetz, verdachtslose Rasterfahndung, Europäischer Haftbefehl, Luftsicherheitsgesetz, polizeiliche Durchsuchungen und Beschlagnahmen in den Arbeitsräumen eines Journalisten, Online-Durchsuchung von Computern, automatisierte Aufzeichnen von Kfz-Kennzeichen, Vorratsdatenspeicherung – in zahlreichen Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht seine Rolle als Hüterin der Verfassung behauptet.

Unmittelbare Angriffe auf die Institution des Bundesverfassungsgerichts waren die Folge. Ein amtierender Bundesinnenminister lieferte sich sogar einen Schlagabtausch mit dem Bundesverfassungsgericht. Diese Angriffe sind genauso gefährlich wie die grundrechtsblinde Politik der inneren Sicherheit. Die Regierung Merkel empfindet auch den bisherigen Grundrechtsschutz als zu weitgehend und arbeitet daran, ihn auszuhöhlen. Hinzu kommt der Versuch, unser Verständnis der Grundrechte umzudeuten. Es ist beunruhigend, wenn ein Bundesinnenminister immer wieder auf ein vermeintliches Grundrecht auf Sicherheit verweist, das es in unserer Verfassung gar nicht gibt. Die Blaupause des Grundgesetzes von Herrenchiemsee verträgt sich damit nicht.

Unsere Demokratie lebt von der Vorstellung, dass Staat und Gesellschaft nicht identisch sind, dass die Gesellschaft, die Bürgerschaft, den Staat lediglich stellvertretend beauftragt, Verantwortung zu übernehmen – für Aufgaben, die sie nicht selbst übernehmen kann. Deswegen schreibt die Verfassung den Bürgern Rechte zu, die die Tätigkeit des Staates begrenzen und zugleich die Freiheitsräume des einzelnen schützen. Diese Rechte sind in den modernen demokratischen Verfassungen die Grundrechte. Ihre Bedeutung für die liberalen Demokratien ist von unschätzbarem Wert.

Mit den Grundrechten und mit der unbedingten Bindung der Staatsgewalt an diese Grundrechte wurde das Fundament für den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gelegt. Die massiven Versuche dieses Fundament umzubauen gehören beendet. Die Zeit ist reif zur Umkehr.

Die Autorin ist stellvertretende Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion und ehemalige Bundesjustizministerin.

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