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Meinung: Abwanderung Ost: Da fehlen Hugenotten

Alle reden von Zuwanderung. Keiner von Abwanderung.

Alle reden von Zuwanderung. Keiner von Abwanderung. Weil der Zug der Ostdeutschen nach Westen so still, so ohne Aufsehen, so unaufhaltsam vor sich geht? An den Größenordnungen kann es nicht liegen: um die 30 000 bis 40 000 Menschen pro Jahr, eine halbe Million seit der Wende. Kein anderes Land in Europa erlebt eine solche massive Binnenwanderung, sagen die Statistiker, abgesehen vielleicht vom Süden Portugals. Während sich der östliche Teil der Bundesrepublik äußerlich kaum noch von ihrem westlichen Teil unterscheidet, vollzieht sich eine Unter- und Gegenströmung von Ost nach West. Die BMW-Werkseröffnung in Leipzig vermittelt den falschen Eindruck. Die Gegenströmung zerrt mit Macht am Vereinigungsprozess. Die Abwanderung West unterläuft den Aufbau Ost.

Natürlich haben diejenigen Recht, die vor Panikmache warnen. Weder blutet der Osten aus noch gibt es einen "brain-drain", der alle patenten Köpfe nach Westen zieht. Zum guten Teil sind die Bevölkerungsverluste auch eine Folge der endlich gewonnenen, gewachsenen Mobilität. Aber alarmierend ist der Prozess doch. Er rückt menetekelhaft andere Ereignisse vors innere Auge: die Flüchtlinge nach Ungarn und Tschechien, die 1989 die DDR erschütterten, die rund zwei Millionen Menschen, die Ostdeutschland in dem Halbjahrhundert der Teilung verlassen haben. Der Aderlass hat diesen Teil des Landes auf Dauer geschwächt. Nun werden wir Zeuge einer schleichenden Erosion.

Schönreden kann man sich diese Entwicklung mittlerweile nicht mehr. Der Gedanke, es sei gut, wenn sich junge Menschen aus dem Osten - und es handelt sich zumeist um junge, gut ausgebildeten Menschen - den westdeutschen Wind um die Nase wehen lassen, ist zu harmlos, um wahr zu sein. Es gibt wenig Anlass zu der Hoffnung, diejenigen, die jetzt gehen, würden irgendwann, ausgestattet mit westlichen know how, zurückkommen. Diesmal steht hinter ihrer Entscheidung weder Abenteuerlust noch Panik, sondern eine pessimistische, durchaus rationale Einschätzung der Entwicklungschancen im Osten.

Die Folgen bestehen nicht im Leerstand der Plattenbauten, um die es vielleicht so schade nicht ist. Wenn Halle, Cottbus oder was für eine Stadt sonst im letzten Jahrzehnt zehn, 15 oder mehr Prozent ihrer Bewohner verloren haben, wenn das Altersspektrum sich massiv zugunsten älterer Jahrgänge verschiebt, wenn sich mangelnde Investitionen und sinkende Konsumkraft in einem Teufelskreis verstärken, dann ist das Gefüge des öffentlichen Lebens bedroht - Schulen, Institutionen, Vereine. Staunenswert erneuerte Städte und Dörfer verlieren den Boden, aus dem sie leben sollen. Selbst die Stimme des Ostens im Gesamtstaat wird schwächer: Weil das Volk weniger wird, sinkt im nächsten Bundestag der Anteil der Ost-Abgeordneten.

Damit nicht genug. Wir erleben Geschichte, denn Bevölkerungsveränderungen wirken langsam, aber tief. Diese Abwanderung rüttelt an den Fundamenten der Gesellschaft, wie sie sich seit der Industrialisierung herausgebildet haben - zunehmende Bevölkerung, daraus hervorgehende Wirtschaftskraft, über Generationen gewachsene Strukturen. Nun schrumpfen zum ersten Mal seit Menschengedenken Städte, und ein Land wie Sachsen, dessen Leistungsfähigkeit sich immer auf seine Bewohner stützte, hat die geringste Bevölkerungsdichte seit hundert Jahren. Die Sache zwingt längst zum Blick auf historische Zeiträume, in denen wegen Seuchen oder Kriegen die Bevölkerung knapp wurde. Da wurde dann "peupliert", riefen brave Landesherren Hugenotten oder Salzburger. Doch wo sind unsere Hugenotten?

Die Zuwanderung, über die wir gegenwärtig so heftig streiten, wird das Problem nicht lösen. Die Green-Card-Aspiranten werden nicht in den Osten gehen, sondern, beispielsweise, nach München. Das leuchtet, vergleicht man es mit dem Osten - Gründer-Boom, vier Prozent Arbeitlosigkeit. Weshalb schlägt dennoch keiner Alarm? Weil niemand weiß, wie diesem "Fluch des Ostens" (Christoph Dieckmann in der Zeit) beizukommen ist? Das ist leider wahr, aber dieses Eingeständnis umschreibt längst nicht mehr nur unser Unvermögen. Es ist die Schutzmauer, um ein dramatisches Geschehen nicht wahrzunehmen.

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