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Meinung: Aktive Sterbehilfe: Die Freiheit am Ende

Man kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand." Das ist eine der Weisheiten des großen Kirchenlehrers Augustinus, die ins Mark treffen.

Man kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand." Das ist eine der Weisheiten des großen Kirchenlehrers Augustinus, die ins Mark treffen. Angstfreiheit und Geborgenheit verspricht er - wenn man nur glauben kann. Doch wer kann das heute noch? Auch Christen haben ihren Glauben nicht mehr, sie müssen ihn, religiös gesprochen, täglich neu erobern können. Und je weniger man glauben kann oder will, desto weniger vertraut man darauf, am Ende aufgefangen zu werden. Man möchte selber bestimmen, wie tief der Fall geht. An die Stelle der Utopie Gottes tritt die Utopie der Autonomie.

Wenn ich schon den eigenen körperlichen und geistigen Verfall nicht aufhalten kann, dann möchte ich wenigstens den Zeitpunkt selbst bestimmen, wann ich aus dem Leben trete - das ist die Grundidee der modernen Euthanasie, die mit dem Ausmerzungsterror der Nazis nur den Namen teilt. Denn das Ziel des Euthanasiegesetzes, das gestern in den Niederlanden verabschiedet wurde, ist nicht die Beseitigung von individueller Freiheit, sondern im Gegenteil: ihre Verlängerung bis in die Phase, in der wir nicht einmal mehr an uns selbst Hand anlegen können. Die letzte, vom Gesetz gedeckte Freiheit des Niederländers ist es von heute an, jemanden damit zu beauftragen, ihm eine Giftspritze zu setzen.

Manche sagen, damit verabschiedeten sich die Niederlande aus dem christlichen Abendland. In der Tat geht kein anderes Land so weit. Allerdings hat das Abendland zwei Religionen hervorgebracht: Die eine glaubt an Gott als das höchste Wesen; die andere an den Menschen als das einzige Wesen. Für die eine liegt die größte Freiheit darin, sich vor Gott und niemandem sonst zu verneigen; die andere will den Einzelnen von allen Fesseln befreien.

In diesem inner-abendländischen Streit schlagen sich die Niederländer auf eine Seite, radikal. Denn es geht ja in Wirklichkeit nicht um die unerträglichen Schmerzen eines Todkranken; dagegen helfen heute Palliative. Nur sind in unserem Nachbarland die schmerzlindernden Methoden nicht so weit fortgeschritten wie bei uns. Wohl auch deshalb, weil dort schon seit Jahren halblegale Euthanasie betrieben wird. Nein, es geht um Einsamkeit, Abhängigkeit, Scham. Nur: Hilft dagegen Euthanasie?

Wenn man sich schon nicht auf die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens einigen kann, so muss doch eine Frage erlaubt sein, von Nachbar zu Nachbar: Erreicht ihr die Autonomie, die ihr anstrebt? Wenn man sich die bisherigen Erfahrungen und das Gesetz ansieht - nein. Tötung wird mehr und mehr zu einer vermeintlich normalen medizinischen Maßnahme, in deren Schatten unfreiwillige Tötungen zunehmen. Vereinzelt wurden schon Menschen getötet, die depressiv waren, nicht sterbenskrank. Untersuchungen zeigen, dass Kranke von ihrem familiären Umfeld und vom Pflegepersonal immer öfter gedrängt werden zu tun, was legal, also neue Norm ist. Es entwickeln sich quälende, mitunter stumme Dialoge: Falle ich euch zur Last? - Das siehst du doch. - Dann will ich sterben! - Dann unterschreibe endlich!

Euthanasie-Befürworter sagen, das seien alles Ausnahmen. Aber wenn nur freundliche Gesunde am Bett von Kranken sitzen, warum wollen dann immer mehr Kranke getötet werden? Einsamkeit und Scham sind die wichtigsten Motive derer, die sterben wollen. Beides kann man ihnen nehmen, indem man ihnen etwas anderes gibt als eine Spritze. Darin liegt wohl eines der Geheimnisse des Tötungsverbots, dass es Kranken und Gesunden keinen Ausweg lässt, dass es sie einander aussetzt. Da ist jener andere Glaube überzeugender. Der Christ denkt sich den Menschen nicht süßlich, sondern herb: Auch Nächstenliebe braucht Gebote. Die Holländer denken lebensfern. Die Menschen, die einen Kranken begleiten, sollen so selbstlos sein, dass sie ihm den Zettel nur aus lauteren Motiven hinschieben; aber nicht selbstlos genug, um ihm das Leben erträglich zu machen. Was für eine unsinnige Utopie. Der Versuch, die Autonomie bis ins Letzte zu treiben, endet in heilloser Abhängigkeit. Man sollte dieses Experiment gut beobachten. Und nicht nachahmen.

Ein großer Kirchenlehrer, einer der Gegen-Kirche, hat einmal gesagt: "Die Hölle, das sind immer die anderen."

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