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Meinung: Alle gegen alles

Israel hat eine einzigartige Protestwahl erlebt. Wähler und Politiker wissen nur, was sie nicht wollen

Es war eine Trotz-, eine Anti-Wahl. Die Wähler stimmten zwar für Ariel Scharon, aber eigentlich gegen die Politik seiner Likud-Partei, gegen die Linke, gegen das politische Establishment, gegen die Siedler, gegen die palästinensische Intifada, gegen die Wirtschaftskrise, gegen ihre eigene Angst um den Arbeitsplatz, vor allem aber gegen das die Moral zersetzende Gefühl, dass es immer noch schlimmer wird und nichts dagegen unternommen werden kann. Und schließlich votierten sie gegen die Einflussnahme der Ultrareligiösen, den „religiösen Zwang“ im öffentlichen und privaten Leben.

Die niedrigste Wahlbeteiligung aller Zeiten, die fehlende Begeisterung selbst im siegreichen Lager, die Apathie der Bürger im Wahlkampf: Der Israeli hat Nein gesagt, den Politikern und Parteien die gelbe Karte gezeigt. Und Scharon hat zu Recht gesiegt, wenn man den Regierungschef als politischen Ausdruck der Gemütslage des Wählers versteht: Beide haben keinerlei weitergehende politische Perspektiven, glauben aber an Gewalt als einziges Mittel zur Lösung scheinbar unlösbarer Probleme, sei es im Konflikt mit den Palästinensern oder im Inneren, wo die Wirtschaftskrise einen Zusammenbruch der Sozialstrukturen und den Absturz vieler in die Armut auslöste. So haben ausgerechnet die Bewohner der Armenviertel Scharon ihre Stimme gegeben im Wissen, dass dieser ihre Not mildern könnte, würde er nur die Milliardensummen, welche er in die Siedlungen steckt, zu ihnen umleiten – was er aber nicht einmal zu erörtern bereit ist.

Jitzak Rabin hat dies seinerzeit gemacht, doch dessen Arbeitspartei wurde nie dafür belohnt. Sie gilt als Partei der wirtschaftlichen Elite und hat einzig in den fälschlicherweise als reich geltenden Kibbutzim und den Millionärsvororten von Tel Aviv siegen können. Und die Israelis haben „antireligiös“ gestimmt, für die populistische „Schinui", deren einziger Programmpunkt der Kampf gegen die Ultrareligiösen ist, namentlich die stets von kriminellen Skandalen erschütterte und diesmal vom Wähler bestrafte „Schas-Partei“. Religiöse, so die Schinui, sollen nicht einfach mehr Rechte erhalten und weniger Pflichten nachkommen müssen, sondern sich aus dem säkularen Alltagsleben zurückziehen. Das heißt vor allem: weniger Geld für ultrareligiöse Institutionen, aber Wehrdienst für alle; öffentliche Verkehrsmittel und offene Geschäfte am Schabbat. Der Hightech-Staat Israel soll sich dem 21. Jahrhundert anpassen und nicht ins Mittelalter zurückfallen. Und so zog Schinui die „vom Staat gemolkenen" Mittelständler an, die nicht länger „diese religiösen Parasiten“ finanzieren wollten.

Scharon hat keinerlei Vorschläge zur Lösung der internen Krise vorgelegt. Und offensichtlich ist der Regierungschef in seiner eigenen Partei in der Minderheit, wenn er zum Beispiel einen palästinensischen Staat akzeptieren will, zu „schmerzhaften Konzessionen“ für einen Frieden bereit ist, Bushs Vorschläge für eine Konfliktregelung mitträgt und Jassir Arafat nicht erledigen, sondern nur ins Abseits abdrängen will. Auch deshalb bietet er der Arbeitspartei eine erneute Macht-Kooperation an, ja er bittet sie gar darum. Denn er will nicht, was ihm sonst bevorstünde: Eine allein national-religiöse Regierung. Das wäre selbst Scharon zu viel.

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