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Von Sarrazin zu Kachelmann: Alle haben eine Meinung

Sei es die Debatte um Sarrazin oder der Fall Kachelmann. Es herrscht eine grassierende Unzufriedenheit damit, wie wenig die Meinung des Einzelnen zählt und wie wenig sie wichtig genommen wird im Meinungsbildungsprozess. Die "Bild" sieht da die Chance zur Kampagne.

Thilo Sarrazin erwartet einen „Schauprozess“, Jörg Kachelmann erwartet seinen Strafprozess. Ob Sarrazin wegen seiner Thesen zu Integration, Intelligenz und Vererbung seinen Posten in der Bundesbank verliert, wird Bundespräsident Christian Wulff entscheiden. Ob Kachelmann seine Ex-Freundin vergewaltigt hat, wird das Gericht in Mannheim entscheiden. Beide Vorgänge werden von einem gewaltigen Meinungsorchester begleitet. Die Öffentlichkeit nimmt heftigen Anteil. Das muss der Öffentlichkeit genügen. In beiden Fällen wird es keine Volksabstimmungen geben, jeder darf seine Meinung haben, relevant aber sind nur die Urteile von Bundespräsident und Gericht.

Das passt vielen nicht. Deswegen herrscht, insbesondere in der Causa Sarrazin, eine Unterströmung, eine grassierende Unzufriedenheit damit, wie wenig die Meinung des Einzelnen zählt und wie wenig sie wichtig genommen wird im Meinungsbildungsprozess samt Folgen. Die „Bild“, die dem Volk gerne den Puls fühlt, sieht da die Chance zur Kampagne. „Bild kämpft für Meinungsfreiheit“, titelte das Blatt am Samstag und versammelte Meinungen wie „Nicht wir müssen uns den Ausländern anpassen, sondern sie sich uns!“ Meinungsfreiheit ist dann festgestellt, wenn alle eine Meinung haben und sie äußern können.

So gesehen ist Thilo Sarrazin kein Märtyrer der Meinungsfreiheit, wie seine Fans propagieren, sondern auch ein Profiteur derselben. Er hat ein Buch geschrieben, er hat es veröffentlicht, er trägt es durch die Talkshows, Sarrazin wird auf Lesetour gehen, seine Meinungsfreunde werden applaudieren. Daran zeigt sich, wie sicher das kostbare Gut der Meinungsfreiheit hierzulande ist. Nicht zeigt sich daran, dass jede Meinung kostbar ist.

Ralf Höcker, er ist Medienanwalt von Jörg Kachelmann, kämpft auf seine Weise für die Meinungsfreiheit. Er ist empört, dass Alice Schwarzer öffentlich über den Prozess schreibt. Die Feministin sei voreingenommen, auf der Seite der Ex-Freundin. Wenn „Bild“ dafür trompetet, „das wird ja man wohl noch sagen dürfen“, dann wird Höcker ertragen müssen, dass Alice Schwarzer das ja wohl noch schreiben darf. Vielleicht fürchtet Höcker, was auch im Fall Sarrazin zu fürchten ist. Dass es nur ein Streit um Meinungen ist, die Fakten weggeblendet werden, die Annahme des Geschehens über die Wirklichkeit des Geschehens triumphiert. Dass der Meinungsterror siegt.

Ist auch eine Nummer kleiner zu haben. „Bild“ muss – glücklicherweise! – nicht für die Meinungsfreiheit kämpfen, sondern nur um die verkaufte Auflage. Medienanwalt Ralf Höcker wird – glücklicherweise! – nicht bestimmen, wer über den Kachelmann-Prozess berichtet. Alice Schwarzer wird berichten – für „Bild“. Deutschland ist ein erschreckend freies Land.

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