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Meinung: Alle Jahre wieder … löst das Backblech die Leitkulturfrage

Pascale Hugues, Le Point

Vor einem Monat fing es an. Erst wanderte ein dünner Nebelstreif aus Zimtaroma die Treppenstufen hinauf. Am nächsten Tag strich süßer Vanilleduft die Mauern des Treppenhauses entlang. Dann kam der würzige Geruch von kandierten Orangenschalen. Am vierten Tag waren Mandeln und geraspelte Nüsse an der Reihe, am fünften der opulente Duft von geschmolzener Schokolade, am sechsten tränkte das exquisite Aroma von Karamell die gesamte Straße. Und am siebten Tag hatte meine umsichtige Nachbarin aus der ersten Etage ein ganzes Arsenal von Aluminiumdosen mit Weihnachtsplätzchen gefüllt. Sie hatte ein gutes Gewissen. Und ich geriet in Panik.

Denn bei uns in der dritten Etage regierte noch das Chaos vor der Erschaffung der Welt, es herrschte die Tristesse totaler Geruchsneutralität. Seit Wochen träume ich nachts von riesigen Popcorn-Tüten, die den Himmel über Berlin verdunkeln, um das Kommen des neuen King-Kong-Films anzukündigen. Es ist immer der gleiche, monströse Albtraum: Ich muss genug Weihnachtsplätzchen backen, um alle Popcorn-Tüten zu füllen und das hungrige Biest zu füttern, das Berlin am Heiligen Abend überfällt.

Plätzchenbacken ist ein Ritual, das in Frankreich nicht existiert, und das Bände über die deutsche Seele spricht. Den ganzen Dezember hindurch stürzen sich alle Lebenskräfte dieses Landes – das sonst als ausgelaugt, lethargisch, depressiv und frei von Innovationsgeist gilt – auf die intime Wärme der Küchen. Alle Jahre wieder geht ein Zucker-Ruck durch dieses Land. Als würde sich alle unterdrückte Energie der letzten elf Monate plötzlich mit Wucht, fast mit Wut, zwischen Nudelholz und Mehlstaub entladen.

Denn die Bürger dieses Landes beschränken sich keineswegs auf banale Mürbeteigplätzchen: Nein, jeder kreiert seine eigene Kollektion! Die Deutschen werden zu einer Nation von Goldschmieden, von Spitzenklöpplern, von Zimmermännern. Ein ganzes Volk walzt, rollt, ziseliert und formt. Wie pointillistische Maler sprenkeln sie vielfarbige Splitter auf die Schalen von Walnuss-Schnecken, sammeln winzige Vierecke aus Schokolade und Vanille, um ebenso winzige Dominosteine zu konstruieren. Da werden Türme aus Karamell errichtet, Häuschen aus Lebkuchen gebaut, Terrassen aus Plätzchen aufgeschichtet und Symmetrien aus Krokant und Marzipan ausgeklügelt – phantastische Konstruktionen. Rein gar nichts haben die deutschen Weihnachtsplätzchen gemein mit dem schwärzlichen Zement des christmas pudding, dem aufgeplusterten panetone oder der unter Konditoreicrème erstickenden bûche de Noël. Zierlich und raffiniert sind die deutschen Weihnachtsplätzchen. Kleinode, die von entfesselter Phantasie zeugen – und sogar von Humor.

Ich kenne nicht einen Weihnachtsmuffel, der ihnen widerstehen kann. Selbst die Deutschen, die Weihnachtsbäume spießig finden und ihre Familien zum Teufel wünschen, schmelzen vor einem Zimtstern. Kein Zyniker verschmäht Kokoskugeln. Unantastbar sind die Vanillekipferln, von allen respektiert die edlen Pinienzapfen. Noch der kritteligste Bürger greift zu Superlativen, wenn es gilt, die Kreationen der anderen zu bewundern: „Himmlisch!“, „Traumhaft!“, schwärmen sie, während sie gegenseitig ihre pastellfarbenen Anis-Baisers und Mandel-Küsschen bestaunen. Das Weihnachtsplätzchen ist die unangefochtene Leitkultur dieses zweifelsschwangeren Landes. Unter dem Zuckerguss verbirgt sich die wahre Natur der Deutschen: Sie sind traditionsbeseelte Nostalgiker, besessene Perfektionisten, unersättliche Erneuerer.

Darüber hinaus hat die kollektive Produktion von Weihnachtsplätzchen in diesem angstgelähmten Land auch noch therapeutischen Wert. Draußen tobt der Sturm, der Regen tappert auf die Küchenfenster, der Wind lässt die ganze Nacht hindurch die Pappel im Hof quietschen. Eine solide Grenze baut sich auf zwischen der warmen, duftigen Welt im Wohnungsinneren und dem düsteren Winter im großen, globalisierten Dorf vor der Tür.

Nur ab und zu dringt ein Echo von draußen in die Küche. Das Geld wird knapp? Schnell einen Kardamon-Taler in Schokoladenglasur tunken. Arbeitslosigkeit droht? Zur Beruhigung wird flugs ein Eiweiß gequirlt. Der Schnee hat die Stromversorgung lahmgelegt? Macht nichts: In der Küche sind die Wangen rot, und Schweiß glänzt auf den Stirnen. Rund ums Backblech vergisst man den Stress und kann sich auf die wesentlichen Fragen konzentrieren: „Gibt es da oben einen Gott?“, fragen die Kleinen mit verklärten Engelsaugen. Ich mache mir überhaupt keine Sorgen mehr um dieses Land. 2006 kündigt sich so süß und dynamisch wie ein Espresso-Küsschen an. Joyeux Noël!

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