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Meinung: Alles auf die Neokons zu schieben, ist zu einfach

Warum viele an eine Verschwörung im Weißen Haus glauben möchten Von Richard Bernstein

Die Verbindung wurde so oft hergestellt, dass sie fast natürlich erscheint, Teil der allgemein akzeptierten Wahrheit. Und tatsächlich konnte man es auch vor kurzem auf den Seiten der New York Times finden: „Über die meiste Zeit der Bush-Regierung herrschte die neokonservative und von Dick Cheney und Mr. Rumsfeld propagierte Idee vor, die militärische Macht Amerikas zu nutzen, um Demokratie in der ganzen Welt zu befördern.“

Cheney und Rumsfeld als die wichtigsten Befürworter des Kriegs im Irak werden in Sätzen meist gleich nach dem Wort „neokonservativ“ platziert. Die Idee ist sehr eindeutig, teilweise richtig, seltsam unvollständig – und in einem gewissen Zusammenhang auch ein wenig unheimlich. Es wird damit nahegelegt, eine kleine Gruppe von Neokon-Ideologen hätte wie ein finsterer Hypnotiseur Besitz ergriffen von den Köpfen einer kleinen Gruppe führender Regierungsbeamter, und das Resultat war ein Disaster: Der irakische Morast, von dem niemand weiß, wie man ihm entkommt.

Auf den ersten Blick mag das wie ein kleines Problem der Etikettierung erscheinen, tatsächlich ist die Analyse, wer den Krieg befördert hat aber wichtig, besonders, während er weiter andauert und immer mehr aus den Fugen gerät, weil die Suche für die Verantwortlichen unausweichlich intensiver werden wird.

Meine These ist, dass die Neokons sicher den Krieg befürwortet haben und auch über einigen Einfluss in der Regierung verfügten, aber dass der Krieg im Irak keinesfalls nur die Kopfgeburt einer kleinen Fraktion im politischen Leben Amerikas war. Eine Kombination von Faktoren spielte eine Rolle: Der Schock des 11. September; eine Regierung, die in einer Zeit der nationalen Krise nach einer starken Politik suchte; und die Resonanz, die die Lösung der Neokons bei dem guten, alten liberalen Interventionismus amerikanischer Art fand.

Die beste kurze Beschreibung des Neokonservativismus stammt von Irving Kristol, dem Publizisten und Autor, der einer der Gründer der Bewegung war: Ein Neokon, sagte er, „ist ein Linker, dem die Realität ein paar Dellen zugefügt hat“. Die gemeinte Realität war die Mitte der 1970er Jahre, als der Neokonservativismus entstand und bestand in dem, was Kristol und andere als die große Gefahr der Sowjetunion ansahen – eine Gefahr, die viele Linksliberale nicht verstanden, wie die Neokons glaubten. In anderen Worten: Die Neokons waren keine traditionellen Konservativen aus der muffigen Welt der Clubs der weißen Männer, sondern eine andere Spezies, die überzeugt war, dass es das Böse in der Welt wirklich gab und dass der dominante Linksliberalismus zu sehr zur Selbstbezichtigung neigte, um es als solches anzuerkennen.

Aber, so sagt Joshua Muravchik, ein neokonservativer Forscher des „American Enterprise Institute“, als ehemalige Linke tendierten die Neokons zur idealistischen Seite des Falkenlagers, im Gegensatz zu den „Realisten“, die eine enger begrenzte und wahrlich konservative Vorstellung vom Gebrauch amerikanischer Macht hatten.

Der Gegensatz kam Mitte der 90er zum Vorschein in der Debatte, ob man im Bosnienkrieg intervenieren sollte, als ein „Realist“, der ehemalige Außenminister James Baker, die berühmten Worte sagte: „Dieser Kampf geht uns nichts an“, während Neokons wie Muravchik die Vereinigten Staaten dazu drängten, ihre Macht einzusetzen, um das Abschlachten zu beenden.

Es ist interessant, dass niemand meinte, die republikanischen Neokons hätten es irgendwie geschafft, amerikanische Außenpolitik zu dominieren, als Bill Clinton Gewalt in Bosnien einsetzte und danach gegen Belgrad. Dass es nun so gesehen wird, als hätten sie es getan, geht einher mit einer guten Portion versteckter Andeutungen. Weil die meisten, wenn auch nicht alle, Neokons jüdisch sind und im Allgemeinen den rechtsgerichteten Likud in Israel unterstützten, glauben viele Kritiker des Krieges, dass sie den Irakkrieg forderten, um israelische vielmehr als amerikanische Interessen zu befördern.

Aber während diese Vorstellung in manchen individuellen Fällen ohne Zweifel zutrifft, ignoriert sie doch die anhaltende Debatte in der amerikanischen Gesellschaft, die einen lauten Wiederhall der Debatte im Kalten Krieg darstellt darüber, wie man am besten mit der Sowjetunion umgeht. Denn die aktuelle Diskussion ist in weiten Teilen abermals eine zwischen Realisten und Idealisten, in der die Neokons eine kohärente idealistische Position vertraten, egal ob Israel nun Teil der Gleichung war oder nicht. Die fundamentale Frage im Mittleren Osten war immer, wie man mit den mächtigen antiamerikanischen Gefühlen großer Teile der arabischen und muslimischen Welt umgehen soll, eine Gegnerschaft, die eine furchtbare neue Bedeutung erhielt durch den 11. September.

Eine Denkschule meinte, die USA müssten mehr auf arabische Anliegen eingehen, indem sie ihren augenfälligen Pro-Israelismus zurückfahren und sich gleichzeitig der so genannten Ursachen der islamischen Wut annehmen – Armut, Diktaturen und Verzweiflung unter jungen Menschen.

Die alternative Sicht, und die Sicht der meisten Neokons, war, dass Israels Sicherheit nicht aufs Spiel gesetzt werden sollte, damit die Araber die USA weniger hassen, dass es eine Form von Schwäche und Appeasement wäre, dem hartnäckigen und irrationalen, todeskultartigen und zum Terror neigenden islamischen Hass gegen Amerika und Israel dadurch entgegenzutreten, dass man versuchte, nett zu sein und einigen der Forderungen extremistischer Islamisten entgegenzukommen.

Nach dem 11. September waren es die Neokons, die, nachdem sie jahrelang über die Gefahr des islamischen Extremismus geschrieben hatten, eine Antwort zu haben schienen und eine Vorgehensweise, die darüber hinausging, Afghanistan zu bombardieren. Sie wollten die Ursache des Problems angehen und eine Kultur im Mittleren Osten ändern, die tiefgehend und gefährlich bösartig war. Sie wollten damit beginnen, den bösartigen und tyrannischen Saddam Hussein zu stürzen.

„Ich denke, Bush und Cheney und Rumsfeld übernahmen das, was als Neokon-Strategie gesehen wurde, weil es keine anderen Vorschläge gab,“ sagte Muravchik. Aber die Neokons waren nicht die Einzigen, die diese Argumente vorbrachten. Es waren nicht sie, die die Geheimdiensterkenntnisse manipulierten. Es war niemand anders als Colin Powell, kein Neokon, der vor den UN den Beweis führte (was er später bereute), dass es Verbindungen zwischen Saddam und Al Qaida gab. Es war Bill Clinton, der 1998, als Präsident der Vereinigten Staaten, den „Iraq Liberation Act“ unterzeichnete, der die Unterstützung der Anti-Saddam-Opposition zur offiziellen Politik der USA machte. Und Hillary Rodham Clinton, auch kein Neokon, war unter den 29 Senatoren der Demokraten, die in der Irakkriegsresolution von 2002 den gegenwärtigen Präsidenten dazu autorisierte, Saddam mit Gewalt zu stürzen.

Der Krieg ist schlecht gelaufen. Es ist wahrscheinlich, dass die Geschichtsschreibung zum Ergebnis kommen wird, dass er ein tragischer Fehler war. Aber er war nicht das Ergebnis einer kleinen Neokon-Verschwörung. Das Ganze war weit größer und in vielerlei Hinsicht auch typischer für Amerika als das.

Der Autor war bis zum vergangenen Sommer Büroleiter der „New York Times“ in Berlin. Dies ist die leicht gekürzte Fassung einer Analyse, die in der International Herald Tribune erschien. Aus dem Englischen von Clemens Wergin

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