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Meinung: Alltag in Neukölln

Zur Debatte über Thilo Sarrazins Thesen zur Integrationspolitik Auch uns haben während der Elternzeit in Neukölln manche Realitäten eingeholt. Nie war sie uns zu Arbeitszeiten aufgefallen, die allmorgendliche Armada gut gekleideter Jungmanager am U-Bahnhof Hermannstraße.

Zur Debatte über Thilo Sarrazins Thesen

zur Integrationspolitik

Auch uns haben während der Elternzeit in Neukölln manche Realitäten eingeholt. Nie war sie uns zu Arbeitszeiten aufgefallen, die allmorgendliche Armada gut gekleideter Jungmanager am U-Bahnhof Hermannstraße. Aussteigen, einkaufen, wieder einsteigen und zurückfahren. Eine Gruppe aus Minderjährigen und jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund teilt sich die Arbeit: fingerfertige Belieferung der Kunden, Bewachung der Eingänge, Passanten „abchecken“ und telefonieren. Der Anführer zählt seine Geldbündel auf der Rolltreppe. Rolltreppe fahren muss man in diesem Job wohl lieben. Nie zuvor haben auch wir so viel Zeit im Park verbracht. Immer wieder wurden wir Zeugen von Festnahmen von Dealern.

Sollten wir in einen „ordentlichen Stadtteil“ abwandern? Wegsehen? Neukölln hat Charme. Bei uns schraubt man alte Mopeds, kennt sich und ein Milchkaffee heißt nicht „Latte“ und kommt aus der Maschine. Es wird eben nicht jeden Abend lautstark jemand 18, es gibt keine Touristenströme wie an den Partymeilen Berlins. Auf zehn Videotheken kommen zwei ausgezeichnete Programmkinos. Die Wohnungen im Kiez sind bezahlbar. In unserer Straße sorgt so manches für amüsiertes Kopfschütteln. Das Cafe, das zum Frühstücken mit Biozutaten einlud, aber am Wochenende geschlossen hatte. Oder das spirituelle Rümpelgeschäft, in dem man mit den Worten „Ich bin Hellseherin, was kann ich für Sie tun“ begrüßt wird. Es gibt Menschen, die Papageien ausführen und Füchse füttern, ein Katzenhotel, vier Bordelle nebeneinander und nicht wenige Kombinationen aus Aufbackbäckerei und Bierverkauf, die nachts zum Spätshop werden.In vielen Geschäften stoppt man zum kurzen Smalltalk, zahlt Freundschaftspreise, gehört dazu. Die Anwohner geben sich Mühe und leben ihr Leben – auch diejenigen mit Migrationshintergrund.

Der städtische Lebensstil vergnüglichen Konsums und Teilhabens kommt in unserem Kiez an seine Grenzen, man muss selbst aktiv werden. Vorher haben wir in Lichtenberg gewohnt. Die Angst vor Belästigungen unserer Gäste durch deutschnational eingestellte Jugendliche – kennt Sarrazin dieses Problem auch? – können wir nun im Multikulti-Stadtteil ablegen. Ob wir durchhalten, ist ungewiss. Entweder wir retten Neukölln, oder wir sind bald reif für Schöneberg.

Thomas Kutter, Berlin-Neukölln

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