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Meinung: Amerika – da ist es besser

Eine persönliche Erfahrung aus vier Jahren in den USA: Familie, Gemeinschaft und Beruf bilden das Ganze des Lebens

Sie sind schwanger? Schade, wir hatten noch so viel mit Ihnen vor! Ich erinnere mich gut an den unterschwelligen Vorwurf, der mich viele Jahre begleitete, seit ich vor 19 Jahren mein erstes Kind erwartete: Eigentlich haben Sie an einer Universitätsklinik nichts mehr zu suchen. Fortan war von Forschungsbeteiligung keine Rede mehr. Als wären meine Ausbildung und meine Fähigkeiten ausradiert. Mein Mann und ich hatten fast zeitgleich als Assistenzärzte in einer Klinik angefangen.

Ich war 29 Jahre alt, frisch approbierte Ärztin und hungrig danach, endlich mein Studienwissen umzusetzen. Selbstverständlich wurde von uns jungen Medizinern an einer Universitätsklinik erwartet, dass wir neben dem Stationsalltag forschen. Wir waren auch voller Interesse für wissenschaftliche Fragen und Projekte. Von lebenslangem Lernen und Flexibilität war die Rede, von Eigenvorsorge und Verantwortung. Wir waren beide bereit, viel für unsere beruflichen und persönlichen Ziele zu arbeiten. Und wir wünschten uns Kinder. Als uns das erste geschenkt wurde, arbeitete mein Mann mit den Glückwünschen aller Kollegen zum Kind einsatzfreudig weiter.

Ich musste zur gleichen Zeit lernen, dass ich nirgendwo mehr hineinpasse. An der Klinik war ich abgeschrieben, denn alle gingen davon aus, dass mit mir keine Teamarbeit für Forschungsprojekte mehr denkbar ist. Damit blieb ausschließlich die Arbeit auf der Station. Aber nicht ohne die kleinen Schikanen: „Sie waren gestern ja nicht mehr da bei der Besprechung, sie mussten wohl nach Hause. Wir sind hier kein Feierabendverein.“ Aber auch außerhalb der Klinik war nichts mehr richtig: „Warum haben Sie sich denn ein Kind angeschafft, wenn Sie es dann abgeben?“

Am Tag der Geburt des Kindes wurde mir bewusst, dass ich fortan bis an mein Lebensende die Verantwortung für Wohl und Wehe dieses Menschen trage. Verantwortung dafür, dass er fröhlich und stark ins Leben gehen kann, und auch Verantwortung dafür, dass sein Lebensunterhalt und seine Ausbildung gesichert sind. Und wenn der kleine Junge mit Geschwistern aufwachsen soll, dann heißt das: noch mehr emotionale und finanzielle Verantwortung. Als Medizinerin, die lange und hart für ihre Qualifikationen gebüffelt hat, wusste ich aber auch: Ich wollte arbeiten. Weil ich meinen Beruf liebe, weil ich auf Dauer fähig sein möchte, den Lebensunterhalt für meine Familie mitzuverdienen und weil auch noch ein halbes Jahrhundert Leben vor mir liegt.

So sehr mich einzelne negative Reaktionen im Umfeld damals getroffen haben – tief in mir wusste ich: Es kann nicht falsch sein, dass ich bei allen Muttergefühlen ein Mensch mit Wünschen, Sehnsüchten und Wissensdurst bleibe; ein Mensch, der seine Fähigkeiten entfalten möchte und bei aller Liebe zum Kleinkind auch ganze Sätze sprechen will. Mir war klar: Ich möchte auch in fünf, zehn und 15 Jahren eine Perspektive haben. Dann bin ich glücklicher und ausgeglichener – auch als Mutter. Dennoch: Ich habe mich damals gerechtfertigt und ich habe mich entschuldigt. Das war falsch.

Heute weiß ich: Es gab keinen Grund für ein schlechtes Gewissen. Kinder gedeihen, wenn sie Eltern haben, die zufrieden mit ihrer Lebenssituation sind und aus diesem Grundgefühl heraus zugewandt, liebevoll, konsequent und positiv mit ihrer Familie umgehen. Heute weiß ich, dass Kinder Mutter und Vater so lieben wie keinen anderen, aber dass sie fähig sind, Großeltern, Tagesmütter oder Mentoren ebenfalls zu lieben und zu respektieren, ohne dass dadurch der Eltern-Kind-Beziehung etwas verloren geht. Liebe, so heißt es nicht ohne Grund, ist das einzige Gut, das wächst, je mehr man davon gibt.

Mit dem zweiten und dritten Kind entwickelte sich meine Lebenssituation immer weniger so, wie ich mir vorstellte. Ich habe weniger „gearbeitet“ und langsam aber sicher aufgegeben. Mein Nettoverdienst ging vollständig in den Kosten der Kinderbetreuung auf. Damit wuchs der Druck auf meinen Mann, mehr zu arbeiten und mehr zu verdienen – eine Familie, die wächst, braucht mehr. Dann erhielt mein Mann das Angebot, an einer amerikanischen Universität zu forschen. Ohne dieses Ereignis, da bin ich mir sicher, wäre mein privates und berufliches Leben in komplett anderen Bahnen weiterverlaufen. Wir sind in die USA gezogen – für ein paar Monate, wie wir dachten. Geblieben sind wir vier Jahre. Ein Grund dafür war die ganz andere Wertschätzung, der wir als Familie und als berufstätige Eltern begegnet sind.

Es war ein Kulturschock. Wir kamen in ein Land, dass selbstverständlich davon ausgeht, dass Menschen arbeiten. Und Eltern auch, dies galt für Väter wie für Mütter. Der entscheidende Unterschied zu Deutschland war, dass Kinder nicht als Nachteil, sondern als unverzichtbare Lebenserfahrung gesehen wurden. Ich wurde nicht geduldet, obwohl ich Kinder habe, sondern gefördert, weil ich Kinder habe. Die Grundhaltung, die ich dort erfahren habe, ist: Wer in seinem Beruf gut ist und Kinder hat, der erwirbt zusätzliche Qualitäten. Die Mutter ist flexibel und pragmatisch, sie ist organisiert und belastbar, denn anders könnte sie den Alltag nicht bewältigen. Sie trägt Verantwortung und hat gelernt, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Sie übt täglich mit den Kindern Verhandlungsstrategien, den Kreislauf des Nachgebens und Durchsetzens, sie kann kommunizieren und delegieren. Sie bringt also Führungsqualitäten in unser Unternehmen.

Die Leistungsanforderungen waren hoch in den USA. Genauso hoch aber war das Zutrauen, dass gerade eine Mutter diese Anforderungen erfüllt. Fast noch wichtiger aber war die Erfahrung, dass dies mit derselben Selbstverständlichkeit auch von Männern erwartet wurde. Aus der Haltung heraus, dass Väter unverzichtbar sind für die Kindererziehung. Deshalb fordert die Gesellschaft in den Vereinigten Staaten diese Rolle auch ein. Erfolg im Beruf definiert sich nicht nur über die fachliche Leistung, sondern viel stärker auch über die Fähigkeit, neben der Arbeit aktiv zu sein, seinen Horizont zu erweitern, der eigenen Familie, anderen Menschen und der Gemeinschaft etwas zu geben. Als Vater oder im Ehrenamt. Die erste Frage war nicht: „Was machen Sie beruflich?“, sondern: „Was machen sie neben dem Beruf?“

Erst diese Akzeptanz von Kindern im Berufsleben hat meinem Mann und mir gezeigt, welchen Unterschied es macht, wenn eine Gesellschaft auf die Stärken von Müttern und Vätern schaut und nicht auf ihre vermeintlichen Defizite. Es führt dazu, dass junge Menschen über sich hinauswachsen, Kräfte in sich entdecken, die sie vorher nie wahrgenommen haben, und die Glückserfahrung, die Kinder vermitteln, im Alltag viel stärker thematisieren.

Persönliche Erfahrungen lassen sich immer nur begrenzt verallgemeinern. Aber vielleicht ist der Optimismus, der Glaube an die eigene Stärke, der die Menschen in den USA selbst nach Rückschlägen immer noch auszeichnet, darin mit begründet, dass Familie, Gemeinschaft und Beruf nicht gegeneinander stehen, sondern miteinander das Ganze des Lebens bilden.

Vieles kann man aber eben doch verallgemeinern; denn natürlich gehören zu einem familienfreundlichen Klima auch ganz pragmatische Dinge. Das sind beispielsweise die dort üblichen langen Ladenöffnungszeiten, die es meinem Mann ermöglichten, abends nach der Arbeit den Familieneinkauf zu erledigen. Ich hätte tagsüber mit fünf Kindern unter sechs Jahren im Schlepptau dafür Stunden gebraucht. Das sind Unternehmen, die so arbeiten, dass sie Leistung und nicht Dauerpräsenz einfordern. Arbeitsmuster, die an kritischen Stellen Flexibilität ermöglichen, weil dann unter dem Strich die Leistung und Motivation für das Unternehmen steigt. Unternehmen rechnen nüchtern und wissen, dass sie die besten Köpfe nur halten, wenn diese hoch qualifizierten Menschen auch mit ihren Familien im Alltag zurechtkommen. Dazu gehört eben ein vielfältiges, qualitativ hochwertiges Angebot an Kinderbetreuung und Ganztagsschulen, die ihren Auftrag darin sehen, neugierigen Kindern die Entdeckerfreude und Unternehmungslust zu erhalten. Und dazu gehört ein Netzwerk an Familien unterstützenden Dienstleistungen, die es Eltern ermöglichen, ihre knappe Zeit auf die beiden wichtigsten Aufgaben zu konzentrieren: Fürsorge für die Kleinen und Alten, also Zeit für Familie und Zeit für Arbeit.

Meine Erfahrungen in den USA haben mir den Blick geschärft für das, was wir von anderen Ländern lernen können, wenn es um gute Bedingungen für Familien und Kinder geht. Wir brauchen auch in Deutschland einen gut ausgebauten, transparenten Markt für haushaltsnahe Dienstleistungen und ein breites Netz an Bildungsorten für Kinder. Damit sich diese Angebote stärker entwickeln, hat die Bundesregierung die steuerlichen Vorteile für haushaltsnahe Dienstleistungen und Kinderbetreuung verbessert. Das Elterngeld gibt das Signal, dass Erwerbstätigkeit und Elternsein akzeptiert ist. Netzwerke um Familie werden angeregt beispielsweise durch Mehrgenerationenhäuser.

Es tut sich also auch in Deutschland etwas. Und es ist höchste Zeit, denn wir haben viel Nachholbedarf. Wir brauchen pragmatische Lösungen, wir brauchen aber auch mehr Zuversicht für Familien. Wenn wir heute über den demografischen Wandel reden, wird die Frage: „Warum habt ihr nicht genug Kinder?“ oft sehr persönlich als Vorwurf aufgenommen. Darum geht es mir nicht. Zuversicht für Familien heißt: dass wir selbstbewusst im Beruf und in der Öffentlichkeit dafür werben, wie Kinder den Alltag bereichern, wie sie ihre Eltern über sich hinauswachsen lassen und wie sehr wir alle uns auf sie in Zukunft verlassen. Wir brauchen eine Gesellschaft, die will, dass Kinder hier gut und glücklich aufwachsen können. Zuversicht und Pragmatismus – auch das sehen wir in anderen Ländern, die erfolgreicher in ihrer Familienpolitik sind – liegen eng beieinander.

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