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Artur Brauner.

© dpa

Artur Brauner: Das jüdische Volk wurde "verarbeitet"

Wie konnte eines der zivilisiertesten Völker Europas so viel Unmenschlichkeit demonstrieren? Auch heute noch kommen neue, grausame Einzelheiten ans Licht. Der Filmproduzent und Unternehmer Artur Brauner beschreibt, warum er nachts nicht mehr durchschlafen kann.

Ich bereite gerade ein Melodram vor unter dem Titel „Der Chinese“. Das Geschehen findet statt im Ghetto Lodz, während der Besetzung umbenannt in Litzmannstadt. Im Zuge meiner Recherchen stieß ich auf den Film „Der Photograph“ von Dariusz Jablonski. Es ist ein preisgekröntes Dokument über das Lodzer Ghetto, aufgenommen von einem deutschen Fotografen, dessen Fotos erst im Jahr 1996 in Wien gefunden wurden.

Bei der Ansicht des Films fand ein Dokument besondere Beachtung. Es trägt den Titel „Einzigste Ausfertigung – Geheime Reichssache“. In diesem, einem der am grausamsten beschriebenen Informationen, datiert vom 5. Juni 1942, wird festgestellt, dass bisher 97 000 „verarbeitet“ wurden und das mit drei Autos. Dann werden Vorschläge unterbreitet, wie weiter vorgegangen werden soll.

Im Text heißt es wörtlich: „Berlin, 5. Juni 1942. Einzigste Ausfertigung. Geheime Reichssache!

I. Vermerk:

Betrifft: Technische Abänderung an den im Betrieb eingesetzten und an den sich in Herstellung befindlichen Spezialwagen.

Seit Dezember 1941 wurden beispielsweise mit 3 eingesetzten Wagen 97 000 verarbeitet, ohne daß Mängel an den Fahrzeugen auftraten.“

Bisher wusste ich, dass man Konserven verarbeitet.

Dass man Fleisch zu Wurst verarbeitet.

Dass man Milch zu Sahne verarbeitet.

Dass man Tierhaut zu Leder verarbeitet.

Dass man Bäume zu Papier verarbeitet.

Nun habe ich erfahren müssen, dass die Zahl 97 000 auch meine Nächsten beinhaltet. Die „Verarbeitung“ erfolgte in speziell für dieses Ziel präparierten Lastwagen, die die jüdischen Menschen aus dem Ghetto nach Chelmno, verdeutscht in Kulmhof, brachten. Der Weg dauerte ungefähr eine Stunde und startete in Radygast (polnisch Radogoszcz). Die Ladung bestand aus ausgewählten Ghetto-Insassen, hauptsächlich ältere Menschen und Kinder, da sie nicht genug Arbeit für das Deutsche Reich leisten konnten. Während der Fahrt wurde der Abgasschlauch in Richtung Ladefläche geleitet. Der Erstickungstod fand nach ungefähr 15 Minuten statt.

Nach Ankunft in Chelmno wurden die 80 bis 100 Toten ausgeladen. Unter Aufsicht der SS oder der entsprechenden Polizei wurden sie entkleidet, die Eheringe, die Halsketten, die Ohrringe und sofern möglich auch die Goldzähne eingesammelt und entsprechend der gründlichen deutschen Ordnung in Behälter eingeschlossen, um sie weiter an die entsprechende SS-Zentrale zu liefern. Drei solcher Todeswagen fuhren täglich die Strecke Radygast – Chelmno – Radygast. Auf diese Weise wurden 97 000 Ghetto-Insassen auf grausamste Art dem Erstickungstod ausgeliefert.

Von dem Moment, an dem ich dies zur Kenntnis nahm, kann ich keine Nacht mehr durchschlafen. Ich sehe vor mir plastisch die Szenenkomplexe, wie die Wagentüren verschlossen werden und anschließend das Zischen des herausströmenden Gases auf die eingeschlossenen Menschen. Ich sehe und höre das Jammern der Kinder, das Heulen der Mütter, die Hilflosigkeit der Männer sowie die Todeszuckungen der Erstickten.

Warum mich diese ausgedehnte Massennot besonders berührt und mir zu schaffen macht?

Weil wir, ohne es zu wissen, nur wenige Kilometer von dem tödlichen Sammelpunkt wohnten. Mit der Straßenbahn fuhren wir im Sommer direkt nach Radygast, wo man schwimmen konnte.

In Radygast konnte man sich von der wöchentlichen Arbeit erholen – und nun war Radygast ein Ort des sicheren Todes. Wer nach Radygast kam, hatte nicht mehr die mindeste Chance zu überleben, er wurde „verarbeitet“.

Die Täter, von denen sicher noch einige am Leben sind, haben zur Zeit der Massentötung ihr normales Leben geführt. Die Sekretärin war vielleicht verlobt, kam aus dem Reich und korrespondierte mit ihrem Verlobten über konventionelle Dinge.

Die Fahrer, meistens jung, machten vielleicht Witze über einige Mädchen und Frauen, die man eigentlich nicht hätte umbringen, sondern vorher noch hätte genießen sollen.

Und Polizei und SS? Die waren froh, dass sie den Befehl des paranoiden Führers, das jüdische Volk auszulöschen, ausführen konnten.

Ich komme nicht zur Ruhe und habe Angst, psychisch krank zu werden, wenn ich daran denke, dass auch ich hätte „verarbeitet“ werden können, wenn ich dem Ehrenwort eines Offiziers vertraut hätte, dass es sich bei den Aktionen nur um Arbeit im Osten handle. So stelle ich mir – und das nicht zum ersten Mal – die Frage, die Frage aller Fragen:

Wie konnte eines der zivilisiertesten Völker Europas so viel Unmenschlichkeit demonstrieren, so viel Bestialität und Brutalität walten lassen und so viel Mordlust unter Beweis stellen? Wie war es möglich, Säuglinge durch Auspuffgase ersticken zu lassen? Wie kann man ältere Menschen auf Wagen schleudern, als ob es sich um Vieh zum Schlachten handeln würde?

Es soll dabei nicht vergessen werden, dass alle menschlichen Impulse auch bei den besetzten Völkern ausgeschaltet wurden, denn die Gier nach jüdischen Wohnungen, nach Möbeln, nach Schmuck, nach Kleidung, nach Kühen, hat dazu geführt, dass man sogar die nächsten Nachbarn denunziert hat, um bei deren Verhaftung das überlassene Vermögen zu rauben.

Ganz Europa vereinte sich, um bei den jüdischen Bürgern das letzte Hab und Gut zu ergattern. So wurden ordentliche, bis dahin anständige Menschen zu Räubern, Dieben und Mitmördern.

Und das jüdische Volk wurde „verarbeitet“.

Der Autor ist Filmproduzent und Unternehmer. Er lebt in Berlin. Geboren wurde Brauner am 1. August 1918 in Lodz, Polen.

Artur Brauner

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