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Außenansicht: Wenn Lichterfelde-West über Abbottabad sinniert

Straßenumfragen in Berlin sind ein Abenteuer. Denn der Berliner hat zu allem eine Meinung und verpackt sie gerne in dröhnenden Sätzen. Pascale Hugues aber hört zwischen den Zeilen heraus: Der Berliner macht sich die Welt, wie sie ihm gefällt.

Die Berliner besitzen eine ganz besondere Gabe. Mit einer Handbewegung können sie die großen Ereignisse, die die Menschheit in ihren Bann schlagen, bagatellisieren. Sie wissen, wie man geschichtlich bedeutsame Tage auf den eng begrenzten und vertrauten Teppich ihrer Alltagswirklichkeit zurückbringt. Völlig ungehemmt reduzieren sie die Weltpolitik auf den Maßstab ihres Kiezes. Abbottabad wird Lichterfelde-West. The Mall wird die Hauptstraße von Friedenau.

Nehmen Sie Frau Zimmermann. Gestern früh verbreitete Frau Zimmermann aus Lichterfelde-West im Radio ihre sehr persönliche Sicht auf die Exekution von Osama bin Laden: „Kopf ab, Beine laufen, sagen wir in Berlin. Der Osama war zuckerkrank. Er hatte doch keinen Einfluss mehr“, erklärte Frau Zimmermann so selbstgewiss wie der raffinierteste Stratege des Pentagon. Nicht der Schatten eines Zweifels trübte ihren gesunden Hausfrauenverstand. Sie nennt die großen Männer beim Vornamen, beklebt sie mit einem bestimmten Artikel, einem komplizenhaften „der“, gibt über deren Wehwehchen minutiös Auskunft und bemängelt deren geschwundenen Einfluss.

Frau Zimmermann hat auf alles eine Antwort. Nie zögert sie, bevor sie zum Telefonhörer greift, um sie allen mitzuteilen. Dass der Leichnam bin Ladens sofort auf hoher See bestattet wurde, findet Frau Zimmermann „unmöööglich!“ Ja, Frau Zimmermann nimmt es Obama, pardon, „dem“ Obama, persönlich übel! Und der Rundfunkmoderator kann sie nur mit größter Anstrengung bremsen. Er mag sich noch so sehr bemühen, erst höflich, dann forscher – Frau Zimmermann rast weiter wie ein Rennwagenfahrer, der die Gewalt über sein Fahrzeug verloren hat.

Hören Sie sich auch Herrn Bürger aus Friedenau an. Er gibt ebenso gern seine Meinung zu allem kund. To air one’s opinion, wie die Engländer so treffend sagen. Seine Gewissheiten an die Luft bringen. Kaum hat Prinz William diesen flüchtigen Kuss auf Kate Middletons Lippen platziert (übrigens: was für ein mickriger, lauwarmer Hochzeitskuss! So leidenschaftslos!), da hängt Herr Bürger auch schon am Telefon. Er dekliniert die Regeln der Etikette, als wäre er der letzte Sprössling am Ende des ausladenden Stammbaums der alten englischen Aristokratie. Das elegante Brautkleid, die kanariengelbe Königin. Ja, nicht einmal Herr Bürger aus Friedenau hat sich den unwiderstehlichen Reizen von Pippas unterer Hemisphäre verschlossen.

Dann gibt Herr Bürger auch den Eheberater. Ah, dieser feine Kontrast zwischen dem Berliner Akzent und der Noblesse des Themas. Der „Villiam“ und die „Käthe“, berlinisiert, proletarisiert, Herr und Frau Jedermann mit ihren Eheproblemen in einem Mietshaus von Friedenau. Auch Herr Bürger weiß, wovon er spricht. Und er tut es: laut, bestimmt, beinahe fordernd.

Zwischen dem Wetterbericht und der Aufzählung der Staus auf der Stadtautobahn, den Baustellen in Moabit und dem stockenden Verkehr in beiden Richtungen in Kreuzberg ergreifen die Berliner das Wort. Sie scheuen sich vor keiner Interpretation, wie verwegen sie auch sein mag. Im tiefsten Neukölln schreckt man vor nichts zurück. Die Berliner Bevölkerung besteht aus Atomwissenschaftlern, Kommandanten von Sondereinsatztruppen, alten Aristokraten, die die königliche Lebensart überwachen … Vier Millionen selbsternannte Experten aller Art.

Häufig frage ich mich, warum Fernseh- und Radiosender die Stimme des Volkes erfunden haben – jenes journalistische Format, das dem Mann auf der Straße das Wort erteilt. Ein Reporter hält sein Mikrofon unter das überraschte Kinn eines Passanten. Kalt erwischt, stammelt der Passant dann ein paar verwirrte Sätze. Die Antworten passen nie, sie sind immer belanglos und ganz bestimmt kein Abbild der öffentlichen Meinung. Wozu also? Warum werden Frau Zimmermann drei kostbare Sendeminuten geopfert, und was interessiert uns das Urteil von Herrn Bürger?

Ich glaube, dass Frau Zimmermann und Herr Bürger die Aufgabe haben, die Berliner zu beruhigen. Sie zähmen diese gigantischen und so bedrohlichen Geschehnisse, die sich in weiter Entfernung abspielen. Sie nehmen ihnen die Schärfe. Der Osama macht nicht mehr so viel Angst, wenn Frau Zimmermann ihn zurechtstutzt. Im Mund von Herrn Bürger sind Villiam und Käthe zwei von uns. Auf diese Weise besiegen die Berliner ihre Angst und überwinden die Distanz. Lichterfelde-West hat die ganze Welt im Griff.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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