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Digitale Trauer: Verbunden mit der Welt

Das Unglück auf der Loveparade in Duisburg hat viele junge Menschen aufgewühlt. Sie stellen ihre Handy-Videos bei Youtube ein und schreiben Kommentare zum Geschehen bei Twitter. Was bewegt sie dazu?

„Einfach unglaublich…R.I.P.“, “Wahnsinn…R.I.P.“ heißt es im Kommentar zu einem Youtube-Video über die Massenpanik bei der Duisburger Love Parade. Aber auch „Is this music? …This is the art of death”. Was bewegt so viele junge Menschen, Videoclips mit unscharfen und wackeligen Bildern, aufgenommen mit dem eigenen Handy, bei Youtube der Weltöffentlichkeit zu präsentieren? Wie kann man die fast schon unheimlich hohen Zugriffsquoten deuten? Und was meinen die unzähligen, teilweise bereits zensierten sprachlich extremen Kommentare?

Junge Menschen wollen immer erreichbar sein. Das Handy wartet in Bereitschaftsstellung. Es wird nicht aus dem Auge gelassen. Der stete, oft auch unsichere Blick auf das Display, einer geheimnisvollen Gewohnheit gleich, wandelt sich zu einer flüchtigen Unruhe. Ankommende Anrufe scheinen dann für einen kurzen Augenblick den jungen Menschen aus dem Schwebezustand zwischen den Welten zu erlösen. Aus dem Zustand zwischen der konkreten Umwelt, hier und jetzt, einerseits und der Welt intimer, erregender, virtueller Verbundenheit mit dem Anderen andererseits.

Die Panik beim Unglück in Duisburg hat nicht nur die tatsächlich vor Ort anwesenden jungen Menschen, die unmittelbar im Tunnel zusammengedrängt waren, aufgewühlt, geschockt und paralysiert. Sind doch alle gerade durch die bei Youtube eingestellten Videoclips und die bei Twitter geposteten Tweeds Teil des Geschehens geworden. Eines Geschehens, das einer psychischen Traumatisierung gleichkommt.

„Wer dort war und nicht ganz abgestumpft ist,“ heißt es in einem weiteren Youtube-Kommentar, „den wird das nachts im Schlaf einholen. Der auf dem Sperrzaun Sitzende, der so unbeteiligt dreinschaut, versucht zu verdrängen. Aber es wird ihm nicht gelingen. Nachts wird er die Schreie hören. Die Augen der Sterbenden [...] sehen. Die nach Luft schnappenden, röchelnden Leiber wird er riechen. Die Musik die dabei lief wird er hassen. [...]“

Diese doppelte Identifikation: mit dem Anderen, irgendwo im virtuellen Raum, und dem Instrument der Kommunikation selbst, dem Handy in der eigenen Hand, gewährleistet eine neue Art der Verbundenheit mit der Welt. Psychologisch gesehen kommt es zu einer „Schnittstellenverschiebung“. Der Benutzer eines Werkzeugs fühlt körperlich das Werkzeug ihm zugehörig, zum Beispiel die Schneide der Sense, die Spitze des Füllfederhalters.

Das Handy wirkt auf einmal wie der erweiterte Körper. Der Erreichbarkeitsmodus des Handys entspricht, so könnte man annehmen, dem körperlichen Erregungsmodus. Dieser belebt, dieser stimuliert die Art und Weise, wie man sich die Welt aneignet. Wie man teilnimmt, wie man sie gestaltet, wie man Akteur in einer immer komplexeren, virtuellen Welt bleibt. Und durch den man mit dieser Welt verbunden bleibt.

Der Foto- und Videomodus des Handys erfüllt darüber hinaus eine für das Selbsterleben des jungen Menschen wichtige Dokumentationsfunktion. Kann er sein Leben doch bildhaft festhalten, um den Anderen, da real abwesend aber virtuell anwesend, partiell am eigenen Leben teilhaben zu lassen. Dieser Dokumentationsmodus wirkt darüber hinaus auch wie ein Zeuge, durch den man sich selbst spiegeln und bestätigen (lassen) kann. Dies ist für viele dann eine basale, wenn auch vielfach brüchige, Lebensorientierung.

Die Kommentare zur Love Parade, Ausdruck einer tiefen affektiven Reaktion, so wie sie in anderen traumatisierenden Situationen üblich ist, helfen das Schweigen der Paralyse und des Schocks aufzubrechen. Man beginnt, unbeholfen noch, durch Reden die Erlebnisse zu verarbeiten. So wie es die Menschen bei besagtem Autounfall tun. Anfangs noch ganz im Muster emotional-archaischer Abfuhr wie Schuldzuweisung als Versuch, seelisch sich von dem Schrecklichen zu distanzieren. Durch Aggression als verzweifeltem Versuch, sich emotional gegen das Schreckliche zu wehren und zu schützen, indem man einen Feind bekämpft. Um diesen Feind durch die schlimmsten Beschimpfungen sinnbildlich gar vernichten zu wollen. Vernichten, um selbst bestehen, emotional überleben zu können.

Handy und Videoclip verbinden die jungen Menschen in einer unsäglichen Ohnmacht, angesichts der Qualen und angesichts des Todes von anderen Menschen in ihrer unmittelbaren Nähe im Tunnel. Der Videoclip auf Youtube scheint auf einmal der Modus einer medialen Umarmung sein. So wie sich Menschen beispielsweise nach einem Autounfall umarmen und festhalten. Der Tweed bei Twitter wird zu einem verzweifelten aber auch befreienden Aufschrei, wenn die eigene Belastungsgrenze des Erlebens überstiegen ist. Eines Schreis, durch den man sich selbst ein Echo ist und durch den man sich selbst wieder für einen Moment fühlen kann.

Die Videoclips dienen aber auch dazu, einen Zeugen des Geschehens zu schaffen, ohne den man vielleicht in tiefe Selbstzweifel fallen könnte. Zeigt er doch einem selbst und den mir wichtigen Menschen, was und vor allem dass es passiert ist. Gerade dies hilft, wieder ein Gefühl von innerer, emotionaler Integrität herzustellen. Ein Gefühl, das abgespalten in traumatisierenden Situationen spontan abhanden kommt. Gepaart mit dem unmittelbaren und unmissverständlichen Verlust von Selbst- und Weltverständnis. Die Youtube-Videoclips und Twitter-Tweeds erfüllen eine Selbst reinigende Schutz-Funktion. Dem Bemühen gleich, die eigene individuelle Bewältigung des radikalen Diskrepanzerlebnisses zwischen der existenziell bedrohlichen Lebenssituation im Duisburger Tunnel oder dem entsprechenden Youtube-Äquivalent einerseits und der tiefen eigenen Ohnmacht andererseits zu heilen.

Ulrich Sollmann (www.sollmann-online.de) ist Inhaber einer Praxis für Körper-Psychotherapie und bioenergetische Analyse in Bochum. Er arbeitet als Berater und Coach in der Wirtschaf und Politik. Er befasst sich seit vielen Jahren mit medialer Inszenierung und öffentlicher Kommunikation.

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