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Typisch deutscher Migrant: Viele Ärzte wandern ab.

© dpa

Essay zur Migration: Deutschland - die Talentschmiede der anderen

Warum Deutschland der große Verlierer der Migration im deutschsprachigen Raum ist, erklärt der Migrationsforscher Klaus J. Bade hier in seinem Essay für den Tagesspiegel.

Deutschland ist heute nicht mehr Einwanderungsland und noch nicht Auswanderungsland. Es ist ein demografisch alterndes Migrationsland in der statistischen Mitte zwischen Ein- und Auswanderungsland. Es verzeichnet eine hohe transnationale, insbesondere innereuropäische Mobilität. Ein beträchtlicher Teil dieser innereuropäischen Wanderungen spielt sich zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz ab.

Dabei ist Deutschland im Kreis der deutschsprachigen Länder quantitativ und qualitativ ein Migrationsverlierer. Das gilt auch gegenüber dem vierten deutschsprachigen Land, dem kleinen Fürstentum Liechtenstein, das hier außer Betracht bleiben soll.

Deutschland altert demografisch besonders rasch: Das zeigt der Altenquotient, also das Verhältnis der Personen über 65 Jahre, die von der Statistik für ökonomisch inaktiv gehalten werden, zu den Personen im Arbeitsalter von 15-64 Jahren. Hier liegt Deutschland mit 30,9 deutlich über dem Mittelfeld der EU 27 (25,4), in dem die Altenquotienten von Österreich (25,7) und der Schweiz (24,3) nahe beieinander liegen.

Deutsche gehen innerhalb Europas am liebsten in die Schweiz: Die Fortzüge dorthin haben sich in den vergangenen zehn Jahren fast verfünffacht, 2008 wurde mit knapp 30 000 (29 139) Zuzüglern ein neuer Höchstwert erreicht. Insgesamt sind 2008 über 20 000 Deutsche mehr von Deutschland in die Schweiz ausgewandert, als von der Schweiz nach Deutschland zugezogen sind. Nach Österreich gingen 2008 über 7000 mehr deutsche Abwanderer als Rückwanderer von dort nach Deutschland kamen. Bilanz für Deutschland: klar negativ gegenüber beiden Ländern.

Insgesamt hatte Deutschland in den letzten Jahren eine tendenziell knapp ausgeglichene und zuletzt sogar scheinbar deutlich negative Wanderungsbilanz. Aber so einfach ist das nicht. Der Wanderungssaldo 2008/09 wird auf noch schwer kalkulierbare Weise verzerrt durch die Löschung von Steueradressen, die seit langem nicht mehr erreichbar sind. Sie werden von der Statistik als Abwanderung erfasst. Haben wir also noch etwas Geduld bis zureichende Berechnungen vorliegen

Sicher ist im Blick auf den migratorischen Generaltrend der letzten Jahre und bis auf Weiteres nur dies: Deutschland hat eine tendenziell ausgeglichene Wanderungsbilanz. Das klingt so gut wie eine ausgeglichene Zahlungsbilanz, ist es aber nicht, denn: In einem Wohlfahrtsstaat mit demografisch alternder Bevölkerung verschärft sich bei zunehmender Abwanderung und abnehmender Zuwanderung von Menschen im besten Erwerbsalter der Reformdruck auf die Sozialsysteme, weil die Zahl der Einzahler fällt, während die der Entnehmer steigt. Und wenn nicht eine neue Finanz- beziehungsweise Wirtschaftskrise alles anders kommen lässt, könnten – Modellrechnungen zufolge – 2015 in Deutschland schon bis zu drei Millionen Arbeitskräfte fehlen. Das sind ungefähr so viele, wie es dort heute Arbeitslose gibt.

Zu quantitativen kommen qualitative Defizite in Deutschland; denn der Brain Drain läuft, allem Schönschreiben und Schönrechnen zum Trotz – und zwar nicht nur gegenüber der Schweiz und Österreich. Deutschlands Abwanderer scheinen tendenziell qualifizierter und wirtschaftlich leistungsstärker zu sein als Deutschlands schon anwesende Zuwandererbevölkerung und sogar als im Durchschnitt die Erwerbsbevölkerung insgesamt.

Das zeigt ein Blick auf die Elitenabwanderung am Beispiel der Ärzte. Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung sind derzeit rund zehn Prozent der 28 000 Ärzte, die in der Schweiz arbeiten, deutsche Staatsangehörige. Insgesamt sind im Jahr 2008 über 3000 Ärzte aus Deutschland abgewandert. Wenn von diesen 3000 Ärzten nur rund ein Drittel nicht wieder zurückkehrte, betrüge der Verlust aus entgangenen Steuer-, Sozialversicherungs- und anderen Einnahmen hochgerechnet rund 1,1 Milliarden Euro, Ausbildungskosten nicht eingerechnet. Das hat 2009 das Münchener ifo-Institut für den Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) ermittelt.

Nachteilig für ein Land sind vor allem negative Wanderungssalden bei Personen im erwerbsfähigen Alter. Dieser Effekt wird noch verstärkt, wenn die Abwanderer auf dem Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit sind, also zwischen 25 und 50 Jahren. Auch hier ist die Schweiz der eindeutige Wanderungsgewinner: Der Anteil der deutschen Abwanderer im Alter von 25 bis 50 Jahren lag 2008 in der Schweiz bei fast 70 Prozent.

Auch die deutschen Zuwanderer in Österreich können als größtenteils wirtschaftlich besonders leistungsfähig gelten: 49 Prozent der in Österreich lebenden Deutschen im Alter von 15 und mehr Jahren verfügten 2007 zumindest über Abitur und weitere 28 Prozent über einen darüber hinausreichenden Bildungsabschluss. Dem hohen Bildungsniveau der Deutschen in Österreich entsprechen auch ihre beruflichen Tätigkeiten: 2007 waren 23 Prozent der berufstätigen Deutschen als Wissenschaftler tätig und 24 Prozent als Techniker oder gleichrangig in nichttechnischen Berufen. Dann folgte unter anderen eine relativ große und zum Teil saisonal fluktuierende Gruppe von Dienstleistenden im Bereich des Gaststättengewerbes, vorzugsweise aus Ostdeutschland, die aber als Saisonarbeitskräfte nur in Ausnahmefällen als Migranten gezählt werden. Unqualifizierte deutsche Hilfsarbeiter hingegen sind in Österreich mit 4,5 Prozent eine Seltenheit.

Während in Deutschland die Abwanderung steigt und die Zuwanderung schrumpft, überwiegt in Österreich und der Schweiz klar die Zuwanderung: Österreich weist seit 2005 einen positiven jährlichen Wanderungssaldo aus dem Ausland von etwa 30 000 auf, die fast gleich große Schweiz sogar von etwa 65 000.

„Deutschland hat migrationspolitisch zu lange und zu erfolgreich gebremst“, sagt der Vorsitzende des Integrationsbeirats beim österreichischen Innenministerium, Heinz Faßmann, der zugleich dem deutschen Sachverständigenrat angehört. Führende deutsche Politiker bekennen heute im Blick auf die 1980er und 1990er Jahre selbstkritisch, man habe „die Integration verschlafen“. Wenn es so weitergeht, könnten selbstkritische politische Schlafmetaphoriker im kommenden Jahrzehnt rückblickend sagen, man habe „die Zuwanderungsförderung verschlafen“.

Um wirtschaftlich zukunftsfähig zu bleiben, braucht Deutschland nicht nur die vielbeschworene, aber bislang erst schrittweise, in den Bundesländern unterschiedlich angegangene und insgesamt noch bei Weitem unterfinanzierte Bildungs- und Qualifikationsoffensive. Das Land braucht zugleich kluge Steuerungskonzepte für die bedarfsorientierte Förderung qualifizierter Zuwanderung. Entwürfe gibt es für beides zuhauf. Es fehlt am Mut, sie flächendeckend umzusetzen.

Der Eintritt der starken Nachkriegsjahrgänge ins Rentenalter und der wachsende Fachkräftemangel setzen die Volkswirtschaften der deutschsprachigen Länder auf unterschiedliche Weise unter Druck. Zugleich wächst der Konkurrenzdruck im Blick auf den Wettkampf um die besten Köpfe, innerhalb der EU und über ihre Grenzen hinaus.

Deutschland wird gezwungen werden, sein im Prinzip zwar funktionstüchtiges, aber zu wenig effizientes, weil unübersichtliches und kleinteiliges System der Zulassung von Fachkräften aus Drittstaaten transparenter und attraktiver zu machen. Die Konfliktlinie liegt momentan zwischen dem Arbeits- und dem Wirtschaftsministerium auf der einen Seite, die für ein modifiziertes Punktesystem votieren, und dem Innenministerium, das an dem bestehenden System festhalten will und Punkteorientierungen gleichsetzt mit ineffektiver Bürokratisierung. Man wird sich in Berlin beeilen müssen, denn die Konkurrenz schläft nicht.

Die Konkurrenten im weltweiten Kampf um Spitzenkräfte haben in Deutschland ein paradoxes Missverhältnis zwischen Ausbildungsqualität, Attraktivität und Abwanderungsintensität erkannt. Sie nehmen das kopfschüttelnd zur Kenntnis und wissen es zugleich im eigenen Interesse zu schätzen und zu nutzen.

Deutschland rangiert nach der Einschätzung von 1200 weltweit durch die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young befragten Personalmanagern in forschungs- und entwicklungsintensiven Unternehmen auf Rang vier der Talentschmieden nach China, den USA und Indien. Mit einer entsprechenden Verstärkung der Abwerbestrategien auf Deutschland ist zu rechnen. Folgerung: Deutschland muss attraktiver werden nicht nur für ausländische, sondern auch für die eigenen Spitzenkräfte

Die Schweiz muss sich am wenigsten um die ohnehin laufendende Zuwanderung von Hochqualifizierten sorgen. Wichtiger ist hier deren gesellschaftliche Akzeptanz, auch im Blick auf die immer wieder auftauchende Alarmfrage „Wie viele Deutsche verträgt das Land?“

Österreich entwickelt eine ambitionierte „Rot-Weiß-Rot-Karte“. Das Land geht damit einen Mittelweg zwischen einer Art Greencard, wie es sie in Deutschland einmal gab, und einem flexibilisierten und arbeitsmarktorientierten Punktesystem für Hochqualifizierte, Mangelberufe und für Ersatzkräfte bei Stellen, die nicht mit inländischen Arbeitskräften besetzt werden können. Österreich überlegt zugleich, ob es ausländischen Absolventen heimischer Universitäten ein halbes Jahr legalen Aufenthalt gönnen soll, um sich einen ausbildungsadäquaten Arbeitsplatz zu suchen. Deutschland gewährt seinen ausländischen Universitätsabgängern dazu bereits ein ganzes Jahr – neuerdings sogar ohne Nachrangigkeit gegenüber deutschen Stellenbewerbern.

Klaus J. Bade ist Vorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR).
Klaus J. Bade ist Vorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR).

© privat

Österreich hat im Blick auf begehrte Studienplätze aber auch ganz andere Sorgen: Es wehrt sich gegen den Ansturm deutscher Studenten mithilfe einer Quotierung von Studienplätzen in den Fächern, in denen dies gesetzlich möglich ist (Medizin). Man fürchtet überdies ein Überschwappen des doppelten Abiturientenjahrganges aus Deutschland in allen anderen Fächern. Die österreichischen Universitäten brauchen mehr Geld für diese zusätzlichen Ausbildungsleistungen. Sie dürfen sich diese Mittel aber nicht von den Studierenden holen. Und der österreichische Steuerzahler fragt sich, warum er den nach ihrem Studienabschluss wieder zurückkehrenden Deutschen das Studium finanzieren soll.

Allenthalben wuchern in Europa, selbst im deutschsprachigen Raum, bei durchaus vergleichbaren Herausforderung unterschiedliche Regelungen. Sie sind sachlich schwer zu begründen und schwächen die gemeinsame Attraktivität Europas für qualifizierte Zuwanderer aus Drittstaaten.

„Welche Nummer muss ich wählen, wenn ich den europäischen Außenminister sprechen will?“, hat der mit seinen Eltern aus NS-Deutschland in die Vereinigten Staaten emigrierte Henry Kissinger gefragt, der seinem Land als Sicherheitsberater und als Außenminister diente. Welche Nummer muss man wählen, wenn man das europäische Migrationsministerium erreichen will, würde die entsprechende Frage heute heißen. Die Europäer, auch die deutschsprachigen unter ihnen, werden sich auch in Sachen Migrationspolitik mehr an Koordination und Abstimmung einfallen lassen müssen, wenn sie im weltweiten Wettbewerb bestehen wollen.

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