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Europäische Integration: Für uns geht es um alles

Wir haben heute nicht zu viel Europa, sondern zu wenig, schreibt der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher in seinem Beitrag für den Tagesspiegel. Die Europäische Union ist noch nicht vollendet.

Dass 50 Prozent der Wirtschaft Psychologie ist, gehört zum Allgemeingut der wirtschaftspolitischen Diskussion. Noch mehr gilt das für die Währungs- und Finanzpolitik. Ist das schon überall verstanden? Manche Beiträge zur gegenwärtigen Situation lassen daran zweifeln. Vertrauen aber brauchen die Wirtschafts- und Finanzmärkte genauso wie das friedliche Zusammenleben der Menschen und der Völker. Die deutsche Nachkriegspolitik hatte das erkannt und danach gehandelt. Vertrauen schaffen nach der moralischen Katastrophe und dem Menschheitsverbrechen des „Dritten Reichs“, das ebnete uns den Weg zurück in den Kreis der europäischen Völker.

Doch nicht nur wegen unserer Geschichte brauchen wir in besonderer Weise dieses Vertrauen, wir brauchen es auch wegen unserer Lage in der Mitte Europas und wegen unseres politischen Gewichts. Zu den Fehlern der deutschen Vergangenheit gehörte das Pochen auf dieses Gewicht. Das war die Machtpolitik von gestern. Zu den Errungenschaften der deutschen Nachkriegspolitik gehört die Einsicht, dass Lage und Gewicht uns nicht mehr Macht verleihen, sondern uns eine größere Verantwortung übertragen. So wurden wir zum angesehenen Mitglied in der Europäischen Union.

Die immer stärkere Globalisierung aller Entwicklungen ließ die Erkenntnis hinzukommen, dass die Völker Europas nur noch gemeinsam in der Lage sind, ihren angemessenen Platz in der neuen Weltordnung einzunehmen. Europa als Global Player – das ist das Zukunftsmodell. Ein Modell, das in Europa bewiesen hat: Gleichberechtigung und Ebenbürtigkeit größerer und kleinerer Völker eröffnen den Weg in eine gemeinsame Zukunft. Die Europäische Union ist noch nicht vollendet, weder was die Zahl ihrer Mitgliedstaaten angeht noch was ihre Struktur und ihre Verfasstheit betrifft. Aber schon heute steht fest, im Wirtschafts- und Finanzbereich haben der gemeinsame Binnenmarkt und die Währungsunion Chancen eröffnet, die die Völker Europas, wären sie den Weg nicht gemeinsam, sondern getrennt gegangen, niemals jeder für sich allein hätte erreichen können. Die Probleme, mit denen wir heute zu ringen haben, haben wir nicht wegen zu viel Europa, sondern wegen zu wenig. Niemand kann dabei mit dem Finger auf andere zeigen. Von Deutschland aus gesehen: Wurde nicht von hier aus eine zunehmende Kohärenz der Wirtschaftspolitik mit dem Totschlagargument „keine Wirtschaftsregierung“ verweigert? Wer hat in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts selbst die Stabilitätskriterien verletzt – nicht allein, aber in der Sache doch? Und wer hat Kommission und Europäischem Statistikamt stärkere Kontrollmöglichkeiten verweigert?

Die Probleme von heute sind die Folgen der Sünden gegen die Vereinbarungen von gestern.

Die Antwort auf die Fehler von gestern kann nicht eine Rückabwicklung der europäischen Integration, sondern nur die Fortentwicklung der Integration sein. Das verlangt gemeinsame Entscheidungen, das Bewusstsein gemeinsamer Verantwortung und es verlangt Solidarität. Es verlangt auch, sich darüber klar zu werden, was die Folgen sind, wenn die Staaten Europas sich der Herausforderung nicht gewachsen zeigen. Was Deutschland angeht, so muss sich jeder bewusst sein, dass für uns nicht nur viel auf dem Spiel spielt, sondern dass es für uns um alles geht. Es gibt ihn nicht, den vermeintlichen Gegensatz zwischen deutschen und europäischen Interessen. Niemand ist mit dem Schicksal Europas so verbunden wie wir. Es ist die Wahrheit: Europa ist unsere Zukunft, eine andere haben wir nicht.

Diese Einsicht ist in manchen Diskussionsbeiträgen dieser Zeit nicht klar erkennbar. Manchmal macht auch der Ton die Musik. Von Deutschland ist jetzt eine aktive Rolle gefordert und Handlungsfähigkeit der Regierung. Dessen muss sich auch jeder einzelne Abgeordnete bewusst sein, in den Regierungsparteien besonders. Es gilt Europa fortzuentwickeln – jetzt und nicht irgendwann. Schon Stillstand bedeutet Rückabwicklung. Es geht, um es auf den Punkt zu bringen: um Zukunftsgestaltung Europas und gegen Rückabwicklung.

Der Autor war von 1974 bis 1992 Bundesaußenminister.

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