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Gastbeitrag: Russlands unerwartete Zivilgesellschaft

Am Anfang haben wir Russen Putin beklatscht. Er war jung und dynamisch und gegen den Westen. Nun wollen immer weniger unter ihm leben. Er hat Bürger zum Protest inspiriert, ihnen Selbstbewusstsein und Zivilcourage entlockt.

Im Dezember 2011 hat sich alles verändert. Erst kamen 70 bis 80, dann über 100 000. Schließlich bildeten zigtausende Menschen eine lebendige Kette des Protests durch Moskau – ungefähr die Länge des Berliner S-Bahnrings. Über Nacht wurde aus einem apathischen Volk, das die Machthaber alles machen lässt, ein selbstbewusstes, das kreativ, solidarisch und friedlich für seine Rechte kämpft. Es gibt einen Mann, dem Russland diese Wunderwandlung zu verdanken hat: Er wird mit großer Wahrscheinlichkeit die Präsidentschaftswahlen am Sonntag gewinnen, und sein Name ist Wladimir Putin.

Um die Wandlung der Russen zu verstehen, muss man ins Jahr 1999 zurückgehen, als ein fast unbekannter ehemaliger KGB-Offizier, der Chef vom Geheimdienst FSB und seit kurzem Ministerpräsident Russlands, das Präsidentenamt vom Boris Jelzin erbte. Es ist kein Geheimnis, die Russen haben Wladimir Putin damals bejubelt. Jung und gesund, bereit zum Streit mit dem Westen, schien Putin das Gegenteil von all dem zu sein, was die Russen an Jelzin hassten: Alkoholismus, Verachtung der russischen Geschichte, Untertänigkeit gegenüber dem Westen. Viele Russen nahmen Wladimir Putin damals als Retter wahr. Nur war er keiner.

Die ersten Jahre seiner Regierung waren zugegebenermaßen nicht schlecht. Die Löhne stiegen, regelmäßige Urlaube in der Türkei oder in Thailand wurden zur Normalität. Das Konsumniveau stieg, Einkaufszentren wurden überall aus dem Boden gestampft. Die Russen erhielten zum ersten Mal seit Jahrhunderten die Freiheit, ausreisen zu können.

Sergej Sumlenny
Sergej Sumlenny

© Promo

Doch in mehreren anderen Bereichen verschlechterte sich die Situation dramatisch. Die Korruption griff um sich. Von der Einschulung bis zur Behandlung beim Arzt, vom Polizeirevier bis zum Ordnungsamt: Überall musste ein Russe mehr und mehr bezahlen, damit die herrschende Beamtenklasse ihr Luxusleben führen konnte. Nicht wenige werfen dem korrupten Beamtentum vor, an den größten Katastrophen der vergangenen Jahre schuld zu sein. Es war ein korrupter Polizist, der die Selbstmordterroristinnen für kleines Geld an Bord der Maschine im Flughafen Domodedowo geschmuggelt hat – mit verheerenden Folgen. Es war ein korrupter Feuerwehrmann, der dem Nachtclub „Lahmes Pferd“ in Perm die Lizenz erteilte. Die Folge war ein Feuer mit 156 Toten.

Die Russen hatten gehofft, die Regierungszeit Putins würde eine Zeit des Wohlstandes und des steigenden Einflusses ihres Landes in der Welt sein. Sie wurde aber auch zur Ära von Korruption, Nationalismus und Kritikverbot. Gerichte haben ihre Unabhängigkeit verloren: Statistisch gesehen hat ein Russe fast keine Chance, bei Gericht freigesprochen zu werden. Folter bei der Polizei ist nicht verschwunden. Die „Förderung von Patriotismus“ an den Schulen ist zur Propaganda nationalistischer Ideen bis zur Volksverhetzung geworden. Jede Kritik an der Korruption oder am Verfall der Infrastruktur wird als Nestbeschmutzung gebrandmarkt. Die vom Staat subventionierten kremltreuen Jugendorganisationen wurden zu Schlägertruppen, die Oppositionelle beschimpfen und bedrohen. Auch diese traurige Entwicklung vermochte nicht, die Russen auf die Straßen zu treiben. Es war die Erklärung Putins, zum dritten Mal kandidieren zu wollen, die zum Auslöser des Unmuts wurde.

Die vergangenen zwölf Jahre waren nicht die schlimmsten in der Geschichte Russlands. Nach gewissen Maßstäben gehören sie sogar zu den besten. Nur will man sie nicht erneut, wie ein Déjà-vu, ohne Ausweg und Alternative durchleben müssen. Dieses Gefühl war es, das die Russen auf die Straßen trieb. Putins Rede zeigte ihnen, dass sie das unsympathische politische System nicht einfach aussitzen können. Und so war es Wladimir Putin, der den Leuten Selbstbewusstsein und Zivilcourage entlockt hat, sie zum Protest inspirierte. Dafür muss man ihm dankbar sein.

Der Autor ist Deutschland-Korrespondent der russischen Wirtschaftszeitschrift „Expert“.

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