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Gastkommentar: Eigentum verpflichtet!

Starke Schultern müssen in Deutschland endlich mehr tragen. Die Gerechtigkeitsdebatte mit dem Begriff "Sozialneid" abzutun, ist inzwischen nicht mehr möglich.

Wir erleben eine neue Gerechtigkeitsdebatte. Jahrelang wurde versucht, das Thema der wachsenden sozialen Ungleichheit mit dem ideologisch motivierten Begriff „Sozialneid“ abzutun. Das ist angesichts der Faktenlage nun nicht mehr möglich. Zu sehr hat sich in den vergangenen zehn Jahren die Kluft zwischen Arm und Reich geöffnet, mehr als in jedem anderen Land der OECD.

Analoges gilt für die Vermögensverteilung. Nach Abzug der selbst bewohnten Immobilie besitzt das oberste Zehntel inzwischen über drei Viertel der Vermögen. Erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg kommt es zu einer Polarisierung der Einkommen: Die großen Einkommen (und Vermögen) nehmen zu, die mittleren und unteren Nettoeinkommen stagnieren oder sinken real, bei dem unteren Zehntel seit 2000 um 15 Prozent. Die Konzentration privaten Reichtums geht einher mit wachsender privater und öffentlicher Armut. Die Folge sind unter anderem Verelendung, Suppenküchen, Bildungsarmut, Verwahrlosung der Infrastruktur und Einschnitte in die sozialen Netze. Die Bankenrettungsprogramme, die auch der Sicherung der großen Vermögen dienten, verschärfen die Situation zusätzlich. Wohlhabende und Banken, die während der Boomphase von der Finanzmarktspekulation profitiert haben, blieben bisher verschont und profitieren von der öffentlichen Verschuldung. Die Zeche begleichen überwiegend die Kleinen und die Mittelschicht.

Die wachsende Ungleichheit wurde lange verschleiert. Zumindest Reiche haben meist kein Interesse an einer tief greifenden Veränderung der Einkommens-, Vermögens- und Herrschaftsverhältnisse und verfügen auch über die Macht, die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Wie ist es zu einer solchen sozialen Schieflage gekommen, die ein Großteil der „Eliten“ sich weigert, zur Kenntnis zu nehmen? Dazu geführt haben: eine Steuerpolitik, die einseitig hohe Einkommen, Vermögen, Erbschaften und Unternehmen begünstigt; eine enorme Spreizung zwischen Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Kapital und den Einkommen abhängig Beschäftigter; ein völlig aus der Balance geratenes Verhältnis zwischen den Gehältern von Großverdienern in der Wirtschaft und „Normalverdienern“; ein im Vergleich der EU-Länder deutliches Zurückbleiben der Löhne (Lohndumping) und die Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse.

Darüber, was Gerechtigkeit ist, lässt sich trefflich streiten. Die Menschen haben jedoch ein tiefes Empfinden für Ungerechtigkeit. Große soziale Ungleichheit, wachsende Armut in einem reichen Land, riesige Boni für Spekulanten und Gehälter, die keine Leistung rechtfertigt, verletzen das Gerechtigkeitsempfinden der meisten Menschen, fast überall. Dies gilt auch für große Einkünfte aus Kapitalverzinsung, die ohne jegliche Eigenleistung entstehen und inzwischen geringer besteuert werden als viele aus Arbeit erzielte Einkommen.

Das Gerechtigkeitsgefühl wird auch verletzt, wenn die 400 reichsten Haushalte im Lande wegen vielfältiger Steuervergünstigungen und „Steuergestaltungsmöglichkeiten“ nur 35 Prozent Steuern auf ihr Bruttoeinkommen zahlen, obwohl der Spitzensteuersatz bei 45 Prozent liegt. So verwundert es nicht, wenn nur noch wenige Menschen glauben, dass es in unserem Land gerecht zugeht.

Reiche haben eine größere Steuerkraft, werden aber hierzulande nur relativ gering belastet. Müsste soziale Gerechtigkeit nicht heißen, dass starke Schultern stärker belastet werden? Früher bestand darüber weitgehend Konsens. Was bedeutet aber eine solche Entsolidarisierung für unser Zusammenleben? Größere Gleichheit dient dem Wohlergehen aller. Sie stärkt den sozialen Zusammenhalt und das Vertrauen, ohne die ein gedeihliches Zusammenleben, aber auch eine stabile Wirtschaft zum Wohle aller kaum denkbar sind. Soziale Gerechtigkeit ist daher ebenso ein Gebot politischer und ökonomischer Vernunft wie der Moral.

„Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen“, sagt unser Grundgesetz. Es ist an der Zeit, dass wir uns alle (wieder) mehr daran orientieren.

Der Autor lebt in Berlin und ist Mitinitiator der Initiative Vermögender für eine Vermögensabgabe.

Dieter Lehmkuhl

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