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Gastkommentar: Jenseits aller Alphatiere

Die Deutschen wollen Führung – und fürchten sie zugleich davor. Die Kanzlerin spiegelt die Zerrissenheit wider.

Angela Merkel ist nicht zu beneiden. Denn wann immer eine neue Krise am politischen Firmament heraufzieht, wie zuletzt im Zuge von Präsidentenwahl und christdemokratischer Rücktrittswelle, folgt in Berlin ein kanonisiertes Klagen über ihren Mangel an Führung. Dabei spiegelt sich in der Kanzlerin unsere eigene Zerrissenheit zwischen dem Wunsch nach mehr Führung und der Furcht davor wider.

Drei Gründe sind es, welche die Attraktivität von Führung, auf neudeutsch Leadership, ausmachen. Zum einen die Annahme, dass Führung Politik zielgerichteter und effizienter macht. Führung ermöglicht effektives Regieren und damit schnelles Reagieren auf die Herausforderungen der globalen Risikogesellschaft (Ulrich Beck), gleichgültig ob Ölpest, Griechenlandpleite oder Bankenrettung. So lastete nicht zuletzt Altkanzler Helmut Schmidt die Euro-Krise der fehlenden Führung in der Europäischen Union an. Zum anderen bietet Leadership Orientierung in einer hochkomplexen und hyperdynamischen Welt, in der wir zwar mobil und global vernetzt sind, aber dennoch irgendwie richtungslos umherirren. Führungspersonen geben nicht nur einen Kurs vor, sondern auch Erfolgen ein Gesicht: Ludwig Erhard steht für die soziale Marktwirtschaft, Willy Brandt symbolisiert die Ostpolitik der 70er Jahre und Helmut Kohl repräsentiert die deutsche Einheit.

Drittens beinhaltet just diese Richtungsvorgabe zugleich eine kreative Auseinandersetzung mit der Zukunft und geht damit über das bloße Verwalten von vorhandenem Wohlstand hinaus. So sah Gerhard Schröder das Ziel seiner Reformagenda 2010 darin, die deutschen Sozialsysteme „zukunftsfähig“ zu machen – auch wenn er daran letztlich scheiterte.

Doch bei dem Gedanken an mehr Führung läuft uns merklich ein Schauer über den Rücken. Die Bundesrepublik hat sich im expliziten Gegensatz zum totalitär-faschistischen Führerstaat des „Dritten Reiches“ konstituiert ehe die 68er-Bewegung die letzten verfestigten Autoritätsstrukturen der Nachkriegsgesellschaft hinweggefegt hat. Die kulturelle Revolution hat Hierarchien gebrochen sowie politische Macht und Einfluss entelitisiert. Deshalb ist unsere Furcht vor Führung mehr als ein semantisch bedingter Abwehrreflex. Denn die Dichotomie von Führendem und Geführten schafft eine Differenzierung, welche scheinbar dem demokratischen Egalitätsprinzip entgegenläuft. Führung wird als Zumutung interpretiert („die da oben“), weil wir sie unweigerlich mit Unterwerfung assoziieren. Gerhard Schröder hat in den Worten seines Nachfolgers an der Spitze der SPD, Sigmar Gabriel, „zu viel geführt und zu wenig gesammelt“. Haben wir nicht genau deshalb Angela Merkel gewählt? Wollten wir nicht eine Problemlöserin statt eines Alphatiers?

Dabei sind Führung und demokratische Gleichheit kein Gegensatzpaar. Moderne Demokratie ist nach Max Weber genau dadurch gekennzeichnet, dass Menschen sich darüber auseinandersetzen, wer führen soll. Durch das Repräsentationsprinzip wohnt der heutigen Demokratie ein Moment der Ungleichheit inne, weil das Volk weit weniger intensiv am politischen Prozess teilnehmen kann als dies seine Vertreter tun (sollen). Deshalb fußt ein zeitgemäßes und konsequent umgesetztes Verständnis von Leadership, analog zu jenem der Demokratie, auf der Einsicht, dass nur nachhaltig führen kann, wer auf die Bedürfnisse und Nöte seiner Folgenden eingeht. Wo Politiker aber eine solch intensive Rückbindung vermissen lassen, schwindet ihre Legitimität.

Deshalb liegt Frau Merkels Problem weit weniger in einer mangelnden Ausübung von Autorität statt vielmehr in der fehlenden Rückkopplung mit ihrer Partei und den Wählern. Letztlich hat der Nimbus der Problemlöserin sie zur Kanzlerin gemacht. Daran sollte Merkel sich jenseits der Pseudodiskussion über ihre Führung erinnern.

Der Autor lehrt Strategie und Führung an der LMU München und ist Associate der Stiftung Neue Verantwortung.

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