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Europakreuze der Versöhnung, die Schüler aus der Eifel, der Künstler Bernd Schwarzer, der Fotograf Manos Meisen und der ehemalige Diplomat Guy Feaux de la Croix an zwölf Stellen des Ersten und Zweiten Weltkriegs aufgestellt haben.

© privat

Gedenkjahr 2014: Verpasste Chance

Ein Jahr europäischer Gemeinsamkeit war 2014 nicht. Auch wegen neuer Krisen und Kriege brauchen wir dringend eine europäische Erinnerungskultur. Ein Gastbeitrag

100 Jahre Erster und 75 Jahre Zweiter Weltkrieg: 2014 war ein großes Gedenkjahr, aber das sollte es nicht sein. Seit Jahren hatten sich nicht nur Franzosen, Briten, Belgier und andere in Europa auf das Centennium des Ersten Weltkriegs vorbereitet, mit großem Aufwand auch Australier, Neuseeländer und Kanadier. Nicht aber in Berlin, wo ein gemeinsames Gedenken besonders angebracht wäre, weil dort 1914 das wilhelminische Deutschland „auf den Knopf gedrückt“ hat (Gerd Krumeich). Eine Einladung gab es nicht. Ein gemeinsames europäisches Gedenken war in der Bundesregierung nicht gewollt. Auch sonst sagte die Kanzlerin wenig zur deutschen Schuld am Krieg und im Krieg.

Wie sind wir mit dem Gedenkjahr umgegangen?

Der Erste Weltkrieg wurde mit der Totalisierung des Krieges, der Ideologie der Volksgemeinschaft und den Lügen über die Kriegsschuld zu einem brückenlosen Abgrund, der nicht zwangsläufig, aber faktisch in den 30-jährigen Krieg des 20. Jahrhunderts führte. Ohne diese Urkatastrophe sind die Zerstörung der Weimarer Demokratie, der Aufstieg der Nationalsozialisten, der Zweite Weltkrieg und der Holocaust nicht zu verstehen. Und auch nicht der dritte Gedenktag des Jahres, 25 Jahre Berliner Mauerfall, ein Glücksfall, der die deutsche und europäische Teilung beendete und mit der Geschichte versöhnte. Sollte es deshalb zu einem Vergessen kommen oder deshalb gerade nicht?

Wir müssen fragen, wie sind wir mit dem Gedenkjahr umgegangen? Stimmt es, dass alle Vorschläge für  ein gemeinsames europäisches Gedenken zurückgewiesen wurden? Welche gab es überhaupt und wer hat sie gestoppt? Welche Gesinnungen mögen sich darin spiegeln? Was ist heute mit der Idee Europa in einer Zeit, in der sich neue Spaltungen zeigen, in der es um die Neuordnung der Welt geht, sich Auseinandersetzung mit Russland zuspitzen und nach einer Militarisierung der Außenpolitik gerufen wird?

Reden wir nicht nur von dem Pflichtgemäßen, nicht von Staatsgedenken und Gipfeln der EU-Staats- und Regierungschefs. Wir erkennen an, dass in vielen Medien dem Ersten Weltkrieg breiter Raum eingeräumt wurde. Doch die Nachfrage nach Entlastungsliteratur war immens. Das Hauptinteresse galt der Kriegsschuld, mit dem Ziel und Ergebnis einer Revision des Geschichtsbildes. Alle gleichermaßen mitschuldig seien sie gewesen, die Schlafwandler von 1914. Ach, auch die Belgier, Amerikaner oder Neuseeländer? Soll sich als Fazit des Gedenkjahres eine große Verharmlosung und Vereinfachung festsetzen?

Ohne Lüge kein Krieg

Wer heute gegen die deutsche Alleinschuld, die ich hier gar nicht verfechte, zumal der Erste Weltkrieg auf vielen Seiten mit imperialen Interessen aufgeladen war, polemisiert, begibt sich in eine dunkle ideologische Tradition, die eine katastrophale Wirkungsgeschichte hatte. Die Schuld an den Toten und die Verbrechen am eigenen Volk, sie mussten von Anfang an weggelogen werden.

Mit der Rede des „Friedenskaisers“ an sein Volk begann im August 1914 die deutsche Geschichte als Lügengeschichte: Vom Verteidigungskrieg, der lügenhaften Rechtfertigung von Kriegsverbrechen, der Dolchstoßlüge, der Alleinschuldlegende, der Schuld der anderen am Unglück des deutschen Volkes, der Juden. Wie gerne haben sie sich belügen lassen, die Belogenen, angefangen mit der breiten Zustimmung zur Kriegsfinanzierung. Auch Kirchen und Christen wollten nur zu gerne glauben, Gott wolle und segne diesen Krieg.

Als Lehre bleibt: Ohne Lüge kein Krieg. Die Lüge ist die Mutter des Krieges, der Diktaturen, des Unrechts. Hitler wagte 1939 den Überfall auf Polen nicht ohne die Sender-Gleiwitz-Lüge. Dass auf der Danziger Westerplatte der Zweite Weltkrieg mit dem Beschuss einer polnischen Festung begann, ist eine Lüge. Begonnen hatte der Krieg eine Stunde vorher, mit einem Flächenbombardement des polnischen Städtchens Wieluń. Zwölfhundert Zivilisten starben. Der Zweite Weltkrieg begann gleich mit einem Kriegsverbrechen.

Die Unverletzlichkeit der Grenzen

Eine andere Lehre ist: Die Unverletzlichkeit der Grenzen darf nicht relativiert werden. Dummheiten und auch Provokationen hatten sich viele zu Schulden kommen lassen, wie auch jetzt wieder. Aber auch die größten Diplomatentorheiten von realitätsfernen Schlafwandlern, selbst die schlimmste Kriegshetze von Revanchisten relativiert nicht die Schuld derjenigen, die als erste Grenzen überschreiten, fremde Gebiete annektieren, fremde Völker unterjochen. Diese Wahrheit darf nicht geopfert werden.

Ein gemeinsames Gedenken der europäischen Völker hat 2014 nicht stattgefunden. Es war auch politisch nicht gewollt, aber es wäre notwendig gewesen – innenpolitisch, um neuen nationalistischen Strömungen wie der Alternative für Deutschland entgegenzutreten, außenpolitisch, um die Idee Europa zu stärken. Aber es gab keine deutschen Schritte hin zu einer gemeinsamen europäischen Geschichte. Vielmehr hat sich das deutsche Geschichtsbewusstsein 2014 wieder entfernt von den Erinnerungen der anderen Völker. Die große Lehre aus den Kriegen, auch aus der Krise der EU, aus dem wachsenden Protest gegen das reale Europa von Brüssel, das ist der Imperativ der Völkerverständigung im Ringen um geschichtliche Wahrheiten.

„Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“, zitierte Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 im Bundestag eine jüdische Weisheit. Versöhnung ist, ethisch geboten und politisch notwendig, aber ohne schmerzhafte Wahrheiten nicht zu haben, um die Wahrheit zu finden, also Vergangenes zu klären, Zusammenhänge zu verstehen und für Künftiges gerichtet zu sein. Darum geht es, nicht um Schuldsehnsüchte. Das politische Versagen am gemeinsamen europäischen Gedenken 2014, so klar es nun im Rückblick zu Tage tritt, kann nur ein Ansporn sein für mehr europäische Gemeinsamkeit.

Der Autor ist Staatssekretär a. D. und Vorsitzender der NaturFreunde Deutschlands.

Michael Müller

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