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Meinung: Leserdebatte: Weihnachtsgrüße mit Ellenbogen

Plätzchen für die nette Kollegin, der Mittelfinger für den Kampfradler vor der Ampel: Zum Jahresende stellt sich die Frage nach dem sozialen Klima in der Stadt. Verrohen unseren sozialen Umgangsweisen?

Die Vorweihnachtstage könnten eine Zeit der Besinnlichkeit sein. Doch das Gedränge in den Läden und auf den Weihnachtsmärkten führt eher zu mehr Stress und zu Aggressionen, die unser städtisches Miteinander das ganze Jahr über anstrengend genug machen. Die materielle Unsicherheit fördert die Ellenbogenmentalität. Der Mittelstand fühlt sich bedroht, die Armut wächst und wird zusätzlich stigmatisiert. Die sozialen Verwerfungen verändern das Klima unserer Stadt. Rücksichtnahme und Respekt drohen verloren zu gehen. Die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Milieus der Stadt scheinen mehr denn je auseinander zu driften.

Paradebeispiel Straßenverkehr: Die Autofahrer wettern gegen das rüpelhafte Verhalten der "Kampfradler", die sich verkehrswidrig jeden Vorteil verschaffen. Umgekehrt wird den Autofahrern vorgeworfen, immer häufiger rote Ampeln zu missachten, beim Abbiegen nicht mehr zu blinken und überhaupt rücksichtsloser zu fahren. Laute Handygespräche im öffentlichen Nahverkehr, rüpelhaftes Verhalten, das Herumlungern mit Bierflaschen gehen immer mehr Bürgern auf die Nerven.

Was ist dran an diesen Vorwürfen? Geht der soziale Zusammenhalt verloren? Verrohen unsere Umgangsformen? Die ausführliche Berichterstattung zu Überfällen, Schlägereien, Missbrauchsfällen tut ein Übriges: Das subjektive Sicherheitsempfinden vieler Bürger hat gelitten, der Ruf nach schärferen Gesetzen wird lauter.

Die Meinung "Früher war alles besser" erscheint jedoch allzu wohlfeil. Gerade die Berliner mit ihrem unnachahmlich ruppigen Charme stehen für eine ehrwürdige großstädtische Tradition, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, Versäumnisse direkt anzusprechen und sich einfühlsam nach dem gesundheitlichen Befinden ihres Gegenübers zu erkundigen: "Dir hamse wohl mitn Klammerbeutel gepudert?"

Die jungen Vertreter der Mittelschicht achten wieder auf Distinktion durch Umgangsformen. Knigge-Kurse liegen im Trend, gute Manieren sind ein selbstverständliches Erziehungsziel. Schon ist die Rede von der "Rückkehr der Spießer".

Die Berliner Hundehalter zeigen heute wesentlich mehr Rücksicht und räumen die Hinterlassenschaften ihrer Tiere weg.

Neu ist auch das Bemühen um mehr Freundlichkeit im Handel. "Vielen Dank für den Einkauf und einen schönen Tag noch!" grüßt jetzt die Kassiererin im Supermarkt. Sogar BVG-Angstellte, einst gefürchtet für für ihren hemdsärmeligen und barschen Tonfall, fallen durch eine noch ungewohnte Höflichkeit auf.

Wir sind, nicht nur in der Weihnachtszeit, einander Fremde und Nachbarn zugleich, gelegentlich Konkurrenten und manchmal Partner. Was braucht es für ein gutes Zusammenleben in Berlin? Woran fehlt es?

Liebe Leserinnen und Leser: Wie empfinden Sie das heutige Miteinander in der Stadt? Wie steht es um Rücksichtnahme und Zusammenhalt in Ihrem Umfeld? Was ärgert Sie besonders - und über welche sozialen Gesten haben Sie sich in letzter Zeit gefreut? Diskutieren Sie mit!

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