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"Wir sind ein Berliner!"

© Zeichnung: Stuttmann

Päpstlicher Jargon: Wie geht es Uns denn heute?

Vor dem Papstbesuch muss die Kirche den Konflikt zwischen Individualismus und Kollektiv aushalten. Wie jede Gemeinschaft braucht sie eine Werteorientierung und muss Grenzen nach innen und nach außen ziehen.

Auf die Scherzfrage, wie Päpste einander begrüßen, gibt es keine Antwort ex kathedra. Das fiktive Szenario verweist allerdings auf einen interessanten Hintergrund. Würden die obersten Hirten lässig „Salve Kollege“ rufen – oder verschwindet die eigene Person hinter dem Amt , mit einem gegenseitigen „Wir grüßen Eure Heiligkeit“? Oder führen sie all ihre Titel auf: Metropolit von Rom, Primas Italiens, Nachfolger des Petrus, Vikar Jesu Christi, Höchster Pontifex der universalen Ecclesia, Souverän des Vatikan, Diener der Diener Gottes? Ob die korrekte Anrede auch gesellschaftliche Wirklichkeit, ja dogmatische Wahrheit reflektiert, ist Ansichts- und Glaubenssache.

Doch es sind weniger Fragen der Etikette, als die Annahme, durch das „Wir“ des katholischen Apparats werde das „Ich“ des Individuums generell untergebuttert, die kritische Geister gegen den nahenden Staatsbesuch aufbringen. Die katholische Kirche hat eben ihre monarchische Struktur zu lange feudalistisch interpretiert und dabei die Inspiration „von unten“, wie sie in ihren Gründungsdokumenten durchaus vorkommt, zurückgedrängt. Einer dirigiert, andere parieren. Dazu passt, dass der pontifikale Pluralis Majestatis manche Bruchstelle der anthropologischen Wende (wie man das Bewusstseinsbeben der Neuzeit nennt) überdauern konnte.

Als das Aufklärungsjahrhundert zu Ende ging, regierte in Rom Pius VI., ein Jurist aus gräflicher Familie. 1775 fasste der Kirchenfürst mit seinem „Erlass über die Juden“ Diskriminierungen vergangener Jahrhunderte akribisch zusammen. Anno 1781 passierte anderswo Wegweisendes: Auf Schloss Esterhaz stellte Joseph Haydn seine Streichquartette Opus 33 fertig. In Königsberg veröffentlichte Kant seine „Kritik der reinen Vernunft“. Der Komponist hatte, „auf eine gantz neue besondere art“ die Vielfalt der Melodien, Klangfarben, Dramaturgien und Dialoge zur Meisterschaft entwickelt. Die neue Vision von harmonischer Vielfalt unter Gleichberechtigten erfuhr kammermusikalischen Widerhall. Der Philosoph wiederum entzog mit seiner Analyse der Metaphysik dem klassischen Gottesbeweis die Basis, er verlegte die Erkenntnisverantwortung ins Individuum, das (so seine Definition der Aufklärung) aus selbstverschuldeter Unmündigkeit aufbrechen müsse.

Papst Pius reagierte 1791 auf die von der französischen Nationalversammlung deklarierten universalen Menschenrechte mit seinem Breve „Caritas, quae docente Paulo“. Dass dem Menschen volle Religions-, Gedanken- und Publikationsfreiheit zustehe, nannte er eine „wahre Ungeheuerlichkeit“. „Kann man etwas Sinnwidrigeres ersinnen als eine solche Gleichheit und Freiheit aufzustellen?“ 1796 okkupierten die Franzosen den Kirchenstaat. Der 80-Jährige wurde von Republikanern, die erwarteten, „dass seine Religion mit ihm begraben werde“, abgesetzt und nach Frankreich verschleppt, wo er 1799 starb. 1827 setzte die Inquisition Kants „Kritik der reinen Vernunft“ auf den Index.

Nicht verboten wurde die Einheit-Vielfalt-Botschaft der Haydn’schen Quartette, in denen das „Ich“ und sein „Wir“ den Einklang proben. Aber jene Emanzipation, die der Sound des Aufbruchs intoniert, blieb für die Glaubenswächter noch lange Zeit Teufelswerk. Aufklärung und Demokratie wurden verdächtigt, Programme zum Umsturz der religiösen Ordnung zu sein. Den Pluralis Majestatis hatte Pius VI. wie seine Vorgänger praktiziert, seine Nachfolger hielten bis ins 20. Jahrhundert daran fest. Das mochte bei dem monarchisch strengen Pius XII. plausibel erscheinen. Zum populären Image des Konzilseröffners Johannes XXIII. (Anekdote: „Ich bin ja nur der Papst“) passte solche Amtsdiktion wenig. Das II. Vaticanum (1961-1965) entdeckte in der Moderne Anliegen der Kirche. Gleichwohl blieb auch der zweite Konzilspapst Paul VI. coram publico beim majestätischen „Wir“ – nur einmal, angesichts befreiter Geiseln, für die er sich eingesetzt hatte, überwältigten ihn Emotionen im Singular. Erst Johannes Paul I. sagte ausnahmslos „Ich“, was sein Nachfolger, der Kommunikator Wojtyla, übernahm.

Zunächst sah es so aus, als setze Benedikt XVI. diese zeitgemäße Ausdrucksweise fort. Dann witterten Journalisten ein Comeback des Pluralis Majestatis. „Ich habe das Ich nicht einfach gestrichen“, sagte er 2010 im Interview-Buch „Licht der Welt“. Er äußere „in ganz vielen Dingen“ nicht nur, „was Joseph Ratzinger eingefallen ist, sondern rede aus der Gemeinschaftlichkeit der Kirche heraus. Ich spreche dann gewissermaßen im inneren Miteinander mit den Mitglaubenden – und drücke aus, was wir gemeinsam sind und gemeinsam glauben können. Insofern hat das Wir nicht als Majestätsplural, sondern als Realität des Kommens von den anderen her, des Redens durch die anderen und mit den anderen, seinen berechtigten Stellenwert. Wo man aber als Ich etwas Persönliches sagt, muss dann auch das Ich auftreten.“

Lässt sich das im Amtsalltag so sauber trennen? Haben frühere Päpste bereits auf diese Weise heimlich den pluralis communionis praktiziert? Verschleierung beim Gebrauch der ersten Person gibt es ja auch anderorts: vom Pfleger-Plural („Wie geht’s uns denn heute?“) zum pluralis imperativus („Packen mers“). Vom Reporter-Wir (pluralis narrationis) bis zum pluralis boulevardensis („Wir sind Papst“). Mitunter entpuppt sich das weltumarmende „Wir“ als Trick: vom pluralis bavariae („Mir san mir“) über den Pharisäer-Plural („Wir sind die Guten“) zum pluralis rebellionis („Wir sind Kirche“).

Während ein Dreijähriger bereits „Ich“ und „Du“ sagen kann, dauert es etwas länger, bis er lernt, wie sich sein Ego tatsächlich von der Umwelt abgrenzt. Woody Allen, Experte für lebenslange Individuation, zeigt in einer seiner Psychosatiren, was passiert, wenn ein Außenseiter mit Assimilierungssucht auf eine starke „Wir“-Gruppe trifft. Sein jüdischer Antiheld Leonard Zelig gerät, in planloser Flucht vor der eigenen Labilität, auf die Loggia von St. Peter. Eine Handlungsanweisung für Papst-Proteste liefert die komische Szene allerdings kaum. „Tumult neben dem Hl. Vater“ kommentiert der fiktive Dokumentarist. „Irgendjemand gehört nicht dazu. Die Wachen werden gerufen, während seine Heiligkeit den Eindringling mit einem heiligen Dekret attackiert.“ Man sieht, wie der kuriale Tross auf „irgendjemanden“ mittendrin eindrischt. Doch Zeligs Therapeutin gelingt es, das Ich ihres Patienten liebend hochzupäppeln, den Schwankenden aus Extremen des Konformismus und der Egomanie ins Glück des Dialoges zu überführen. „I’ll get by as long as I have you“, besingt der Soundtrack diese Selbstwerdung im Beziehungslabor, „solange ich dich habe, komme ich zurecht.“

Der neue Berliner Erzbischof ist anders. Lesen Sie weiter auf Seite zwei.

Bei dem neuen Berliner Erzbischof hätte Leonard Zeligs Begegnung mit dem hierarchischen „Wir“ vielleicht eine nettere Wendung genommen. Rainer Maria Woelki signalisiert in ersten Interviews Interesse an Dissidenten. Er werde mit Schwulen- und Lesbengruppen reden, er verstehe die Autoabfackler als Hilferufende. Solche Grenzüberschreitungspläne passen freilich nur bedingt zum defensiven Tenor seiner Dissertation über den Wert der Pfarrei, jener im staatskirchlichen Mittelalter entwickelten Basisstruktur, zu der ein Territorium samt Kirchenbau gehört. Woelki ignoriert zwar keineswegs die Communio-Theologie des Konzils, mit der Engführungen vergangener Jahrhunderte, zum Beispiel die Überhöhung der Amtskirche zur Kirche an sich, überwunden wurden. Er zitiert oft den zentralen Satz der konziliaren Ekklesiologie, die Kirche sei „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“. Bei seinem Hauptthema Pfarrei jedoch setzt der Doktorand auf Besitzstandwahrung. Die Pfarrei sei zwar nur ein möglicher, aber der „normale“ Weg der Gemeindebildung. Dass zum Beispiel eine neue, geöffnete Form der sogenannten Hauskirche als Antwort auf gesellschaftliche Umwälzungen entstehen könnte, ist für ihn kein Thema.

Andererseits traut sich der Erzbischof im Interview auszusprechen, was auch im Umfeld des Papstes gemunkelt wird. Volkskirche im herkömmlichen Sinne werde "es nicht mehr geben". Schon Joseph Ratzinger, der Präfekt der Glaubenskongregation, hatte seinerzeit die Zuspitzung des deutschen Konfliktes um Abtreibungsberatung als Chance für eine Perspektive der Trennung betrachtet und die Wandlung der Massenorganisation zur Entscheidungsgemeinde als Option begriffen. Mutiert eine derart gesundgeschrumpfte Schar zwangsläufig zur Sekte, oder sucht sie vitalen Kontakt mit „den anderen“?

Dass kirchliche Communio, dieses Geheimnis einer „innigsten Vereinigung“, die herkömmliche Gruppendynamik spirituell überbieten soll, zeigten schon vor 60 Jahren Überlegungen des jungen Theologen Ratzinger, der damals eine interne Dimension beschrieb: die Kollegialität der Bischöfe mit dem Papst. Das Leitungs-Wir der ecclesia catholica bestehe aus zwei Spitzen, die man sich nicht konzentrisch, sondern als dialektische Ellipse mit zwei Brennpunkten vorstellen müsse: Einerseits die Wahlmonarchie des Papstes, andererseits das Bischofskollegium in Einheit mit jenem. Das „lebensvolle Zueinander“ beider Autoritäten, hinter denen jeweils die Präsenz Gottes geglaubt wird, realisiere sich in „allzeit menschlich gebrochener Gegebenheitsform“, schrieb Ratzinger. Doch hat er als Papst bislang die kollegiale Umsetzung solchen Zusammenspiels, Kommunikation zwischen „oben“ und „unten“, kaum auf dem Niveau der Haydn’schen Quartette hingekriegt.

Keine Gemeinschaft besteht auf Dauer allein durch Mehrheitsentscheidungen von unten, sie braucht eine Werteorientierung und muss manchmal nach innen und außen Grenzen ziehen. Auch andere Kollektive, von der Familie bis zur UNO, suchen Lösungen für solche schwierigen Prozesse. Bislang hat die katholische Kirche mit 1,2 Milliarden Schäfchen dem Rest der Menschheit selten vorgeführt, dass der Schlüssel für Konflikte zwischen Minderheiten und Mehrheiten im Communio-Modell des Christentums läge. Die Realisierung ihres monarchisch-demokratischen Dritten Weges zwischen Individualismus und Kollektivismus unterscheidet sich oft so wenig vom Proporz-Gefeilsche anderer Kollektive, dass eine speziell christliche Sozialkompetenz schwer zu erkennen ist. Wer allerdings mal Sternstunden der Communio in der Kirche erlebt hat, jenseits von Vorleistung, Kalkül und Kreditlimit, ahnt vielleicht, was Benedikt XVI. meint, wenn er die „Realität des Kommens von den anderen her, des Redens durch die anderen und mit den anderen“ rühmt.

In Stein gehauen wurde das Inbild dieses transzendierenden Wir auf der Piazza von St. Peter, deren Säulengänge sich zur architektonischen Weltumarmung öffnen, als sollten fortan alle Outcasts, Demonstranten, Schwulen, Lesben, Geschiedene und Zweifler empfangen werden. Säkulare Kollektive müssen sich (wie die EU gegen Schuldner oder Flüchtlingsinvasionen) abgrenzen, zur Selbsterhaltung. Aber die Kirche – das „Zeichen der Vereinigung“? Es gebe „den Grenzstrich wirklich, und es ist der Kirche nicht erlaubt, ihn zu verwischen oder als unerheblich zu erklären“, behauptete 1971 Hans Urs von Balthasar, kein Schmusedogmatiker, „und es gibt ihn zugleich nicht, weil der Herr der Kirche, der ihn setzen lässt, nicht an diese Setzung gebunden ist.“

Im Vorfeld des Papstbesuches formieren sich die Opfer frommer Intoleranz, herausgefordert zum Beispiel durch die vatikanische Sexualmoral. Gläubige Weltumarmer provozieren mit ihren Ansichten und Lebensmodellen. Wie fest und offen zugleich muss eine Wir-Gruppe sein, die sich den Anderen öffnet? Die Konfrontation produziert Wut und Verletzungen, deren wunderbare Verwandlung in gute Energie noch nicht ausgemacht ist. Der Spott, den Christen für unzeitgemäße, unverständliche, politisch unkorrekte Positionen und für ihr Versagen hinnehmen sollen, artikuliert Ressentiments und Aggressionen. Solche Dissonanzen, das wäre die übernatürliche Logik des großen Communio-Quartetts (1. Geige: J. Ratzinger), finden ihren Platz, so möchten wir glauben, als Teil der Harmonie.

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