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Eisberge in der Arktis.

© dpa

Russland, China, EU und die Arktis: Misstrauen abbauen, wenn das Eis schmilzt

Der Klimawandel macht die Arktis zugänglich für wirtschaftliche Nutzung. Ob dies zu Konflikten oder zu mehr Kooperation führt, hängt dafür von rein politischen Entscheidungen ab, schreibt der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik im Gastbeitrag.

Die Krise um die Ukraine wird, wie immer sie ausgeht, grundlegende und auch sehr praktische Fragen zu den Beziehungen zwischen Russland und seinen westlichen Nachbarn aufwerfen. Wird das Verhältnis auf lange Sicht und in den unterschiedlichsten geographischen Räumen und Politikfeldern von einer Nullsummenlogik geprägt sein? Oder gelingt Moskau und westlichen Hauptstädten ein Delinkage, eine themenspezifische Entkoppelung, die weiterhin partielle Kooperation ermöglicht, wo diese gemeinsamen und möglicherweise globalen Interessen entspricht? Und lässt sich trotz oder gerade wegen des gestiegenen Misstrauens dort dann "Vertrauensbildung" neu einüben? Die Fragen werden sich nicht nur mit Blick auf Iran, den Nahen Osten oder mögliche Krisen um Nordkorea stellen, sondern auch mit Blick auf den gemeinsamen Hohen Norden, der Arktis.

Nichts zeigt uns die Nähe zwischen Nord- und Westeuropa, Russland, Nordamerika und Ostasien so deutlich wie eine auf den Nordpol zentrierte Landkarte. Der Klimawandel und der damit zusammenhängende Rückgang des Meereises verändert mittlerweile die Geographie der Arktis selbst und macht die bislang weitgehend unüberwindbare Nähe allmählich greifbarer. Er öffnet den Hohen Norden im Wortsinn für eine verstärkte wirtschaftliche Nutzung. Dazu gehören die Förderung von Öl, Gas und mineralischen Rohstoffen, die Fischereiwirtschaft, der Tourismus und nicht zuletzt das maritime Transportwesen.

Neue Konflikte oder Chance auf Zusammenarbeit?

Unter Entscheidungsträgern und Kommentatoren in den interessierten Staaten entwickeln sich derzeit zwei unterschiedliche Narrative mit Blick auf die Zukunft der internationalen Beziehungen in der Arktis. Die einen sehen den Hohen Norden als ein Gebiet zwischenstaatlicher Konkurrenz und zunehmender Konflikte; andere betrachten die Arktis als Zone der Zusammenarbeit staatlicher wie nichtstaatlicher Akteure.

Dem ersten Narrativ zufolge wird der Rückgang des Meereises eher früher als später einen Wettlauf um die energetischen und mineralischen Ressourcen der Arktis und damit auch Streitigkeiten um Gebiete befördern. Die geostrategische Bedeutung der Region wird zunehmen, ebenso die militärischen Aktivitäten verschiedener Akteure. Konflikte zwischen Russland und NATO-Staaten, aber auch zwischen Russland und China, vielleicht sogar zwischen China und NATO- oder EU-Staaten, könnten im arktischen Raum ausgetragen werden.

Dies lässt sich nicht grundsätzlich ausschließen. Allerdings dürfte das Risiko von Ressourcenkonflikten geringer sein als gemeinhin gemutmaßt wird. Tatsächlich befinden sich, wie Christian Le Miére und Jeffrey Mazo, zwei Forscher des Internationalen Instituts für Strategische Studien, in einem Bericht festgestellt haben, 95 Prozent der bekannten Öl- und Gasvorkommen im Arktischen Ozean in bereits delimitierten Exklusiven Wirtschaftszonen (EEZs) der Anrainerstaaten. Für einen Wettlauf gibt es also keinen Grund.

Es trifft zu, dass die militärische Präsenz in der Arktis zunimmt. Allerdings liegt sie noch deutlich unter dem Niveau des Kalten Krieges. Und die Anrainerstaaten der Arktis haben sich darauf verständigt, konkurrierende Gebietsansprüche friedlich und auf der Grundlage der Internationalen Seerechtskonvention (UNCLOS) zu klären. Nicht nur aus diesen Gründen scheint vieles eher für das zweite Narrativ zu sprechen.

Diesem zufolge bildet die Arktis trotz teilweise umstrittener Gebietsansprüche einen weitgehend unregierten Raum. Die leichte Zugänglichkeit birgt Risiken wie Havarien auf hoher See, ökologische Schäden durch Ölverschmutzungen, aber auch sicherheitspolitische Risiken wie Schmuggel, illegaler Fischfang, Piraterie oder gar Terrorismus. Diese Risiken können von keinem Anrainerstaat allein bewältigt werden, sondern erfordern Kooperation.

Militär kann in der Arktis durchaus stabilisierend wirken

Mit dem Arktischen Rat besteht seit 1996 ein Forum, in dem die arktischen Anrainerstaaten – Dänemark, Finnland, Island, Kanada, Norwegen, Russland, Schweden und die USA – sowie zahlreiche internationale Beobachter sich um pragmatische Formen der Kooperation in der Region bemühen. Es ist bemerkenswert, dass die ersten beiden Abkommen, die innerhalb des Arktischen Rats geschlossen worden sind, sich auf verschiedene Aspekte maritimer Sicherheit beziehen und die Mitgliedstaaten unter anderem dazu verpflichten, ein Mindestmaß an Ausrüstung und Fähigkeiten für den Umgang mit Risiken verfügbar zu halten. Dies heißt, dass diese Staaten nicht in erster Linie über ein Zuviel an Sicherheitsinfrastruktur und sicherheitspoltischen Fähigkeiten ihrer Nachbarn in der Region beunruhigt sind, sondern sich eher sorgen, dass es ihren Nachbarn an solchen Fähigkeiten, insbesondere zur Seeüberwachung, zu Rettungsaktionen auf hoher See oder zur Katastrophenbewältigung, mangeln könnte.

Natürlich schauen die einzelnen Staaten sehr genau hin, wenn andere Anrainer ihre militärischen Potentiale in der Arktis ausbauen. Gleichzeitig weisen allerdings norwegische wie auch russische und kanadische Kommentatoren darauf hin, dass gerade das Militär über Fähigkeiten verfügt, um in einer so unwirtlichen Umgebung wie der Arktis Schutz und Sicherheit auch für die zivile Nutzung des Raums zu gewährleisten.

Eine Stationierung zusätzlicher russischer Aufklärungsflugzeuge an der russischen Nordküste beispielsweise könnte also von anderen Anrainerstaaten durchaus als Faktor der Stabilisierung betrachtet werden. Ähnliches würde für einen Ausbau der Küstenwachen Russlands oder anderer Staaten gelten. Kampfflugzeuge senden allerdings eine andere Botschaft. Und natürlich sollte Russland, gerade wenn es die Nordostpassage offen und sicher halten will, von sich aus dazu bereit sein, sicherheitsrelevante Informationen mit anderen Nationen zu teilen.

Eine engere Kooperation zwischen den Marineflotten und Küstenwachen der arktischen Anrainerstaaten würde nicht nur dazu beitragen, die kommerzielle Schifffahrt sicherer zu machen; sie wäre auch eine vertrauensbildende Maßnahme, die Spannungen in der politischen Großwetterlage zwar nicht überwinden wird, wohl aber hilft, ein rationales Mindestmaß an sicherheitspolitischer Kooperation aufrechtzuerhalten.

In der Arktis ist es der Klimawandel, der die Geographie verändert. Ob dies zu geopolitischen Konflikten oder zu gemeinsamen Anstrengungen bei der Risikobewältigung führt, beruht auf politischen Entscheidungen.

Volker Perthes ist Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Die Stiftung berät Bundestag und Bundesregierung in allen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Der Artikel erscheint auf der SWP-Homepage in der Rubrik "Kurz gesagt".

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