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Stuttgart 21: Widerstand im Schwabenland

In Stuttgart von Widerstand zu reden, entwertet die Taten der echten Widerständler. Wer gegen Stuttgart 21 demonstriert, streitet nicht für die Freiheit - und riskiert im Prinzip nichts. Das wird durch eine einzige überzogene Polizeiaktion nicht anders. Ein Kommentar.

Von wegen brave Schwaben, biedere Schwaben, duldsame Schwaben. Nichts davon entspricht ihrem wahren Charakter. Hier muss man die Welt verbessern und Zeichen setzen. Zwar ist der konservative preußische Staatsphilosoph Hegel in Stuttgart geboren. Aber ohne ihn hätte es die revolutionäre Ideologie seines Schülers Karl Marx nicht gegeben. Das liebliche Ländle brachte auch die aufrührerischen Dichter Schubarth und Schiller hervor. Im 16. Jahrhundert gab es wilde Aufstände der Bauern. Und was die neueste Zeit angeht, so stammten etliche Aktivisten der RAF, wie Gudrun Ensslin, aus schwäbischen Pfarrersfamilien. In diesen Milieus, oft pietistisch eingefärbt, ist es angesagt, sich in Wort und Tat zu bekennen.

Das drückt sich auch in der Sprache aus, die nur im Fernsehen oder in manchen Honoratiorenkreisen so betulich klingt, die aber auf dem Land, wo sie noch ursprünglich sein darf, in ihrem Reichtum an drastischen Schimpf- und Drohwörtern kaum zu überbieten ist. Zu dieser derben Sprache passt der eigenwillige Kopf. Den legt man, um einer Überzeugung willen, wie im Fall der Geschwister Scholl, sogar unters Fallbeil. Und stammte nicht auch Graf Stauffenberg, der Hitler-Attentäter, obwohl in Bayern geboren, aus einer schwäbischen Familie?

Da liegt der Gedanke an Widerstand nahe. Schon ist auch dieser geheiligte Begriff in der aktuellen Debatte zur Hand, erst recht, wenn sich jetzt zum Jubiläum der Wiedervereinigung die Bilder von den Montagsdemos in Leipzig vor gut zwanzig Jahren mit denen aus dem Stuttgarter Schlossgarten mischen. Ist das nicht ein und dieselbe Art von Aufruhr? Ein und dieselbe Empörung? Das gleiche Volk? Auch in Stuttgart? Da ist etwas dran. Denn Schwaben war einmal ein armes Land. Hier achtet man bekanntlich sehr aufs Geld, auf Bescheidenheit, auf sein Häusle und den Hof. Und da muss man nun erleben, wie die Kosten für ein riesiges Traumgebilde in den Himmel wachsen, da beißen sich die Bagger in das geliebte Bahnhofsgebäude, da machen die Sägen Kleinholz aus dem angebeteten Baumbestand der Landeshauptstadt. Und da soll ihren Einwohnern nicht das Herz brechen? Also vermengt sich alles, was hier schwäbisch und heilig ist, zu einem gefährlichen Gebräu: das Revolutionäre mit dem Sparsamen, das Bescheidene mit dem Weltverbesserischen. Am Ende braust ein mächtiges Wir-Gefühl durch den Talkessel, es weht nicht nur durch den Park, es weht durch jeden Straßenbahnwagen, jede Schulklasse, jedes Wohnzimmer, jedes Büro. Es feiert sich mit pathetischen Worten, sieht sich in Heldenposen und im Widerstand.

Dabei kann das alles nicht mehr sein als ein stürmischer Protest. Widerstand ist etwas ganz anderes. Die schwäbischen Pfarrer der Bekennenden Kirche im „Dritten Reich“ haben ihn geleistet, als sie verfolgte Juden von Pfarrhaus zu Pfarrhaus leiteten und versteckten. Im Widerstand gegen die Diktatur kämpften die Männer des 20. Juli 1944 und ebenso die Ostdeutschen, die 1989 in Leipzig und Berlin auf die Straße gingen. Sie alle riskierten dabei das eigene Leben wie das ihrer Familien.

Wer heute gegen das Projekt Stuttgart 21 demonstriert, streitet nicht für die Freiheit, sondern gegen den Umbau eines Bahnhofs und für die Erhaltung alter Bäume. Und er riskiert im Prinzip nichts. Das wird durch eine einzige überzogene Polizeiaktion, auch wenn es dabei Verletzte gab, nicht anders. In diesem Land holt keine Stasi die Bürger nachts aus dem Bett, hier erschießt niemand einen Aufrührer im Hof des Bendlerblocks.

Wer trotzdem wegen Stuttgart 21 im Märtyrerglück baden will, entwertet die Taten der echten Widerständler. Denn jeder Unzufriedene darf hier reden, demonstrieren, sich organisieren, vor Gericht gegen staatliches Handeln klagen und die Mächtigen bei der nächsten Gelegenheit abwählen. Mehr als diese Sorte des Widerstandes braucht es in einer funktionierenden Demokratie nicht.

Die Autorin, aufgewachsen in Württemberg, ist Schriftstellerin und Journalistin.

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