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Wikileaks und die Medien: Die Enthüllungsplattform als Ergänzung zu den klassischen und neuen Medien

Sehr geehrter Herr Hesselmann,Ihr Artikel spricht, aus Anlass von Wikileaks, das Verhältnis von Medien, speziell den Zeitungen, und Internetveröffentlichungen an. Dazu möchte ich mehrere Dinge sagen.

Sehr geehrter Herr Hesselmann, Ihr Artikel spricht, aus Anlass von Wikileaks, das Verhältnis von Medien, speziell den Zeitungen, und Internetveröffentlichungen an. Dazu möchte ich mehrere Dinge sagen. Zuerst erwähnen Sie, dass Wikileaks verwirrt. Diese Verwirrung kann ich überhaupt nicht teilen. Diese Plattform ist entstanden, weil es anscheinend das Bedürfnis von Menschen (Geheimnisträgern sowie Mitarbeitern in Wirtschaft und anderen Organisationen) gibt, Sachverhalte offenzulegen, die von großer Bedeutung für viele andere sind. Aus welchen Motiven, ist, wie sie schon geschrieben haben, gleichgültig. Die große Frage ist doch, warum dieses Bedürfnis aus der Sicht dieser Menschen von einer Internetplattform befriedigt werden soll. Man könnte doch annehmen, es brauche eine solche Plattform gar nicht. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, ich selbst würde eine Leak-Plattform ans Netz anschließen und meine Freunde und Bekannten fragten mich nach dem Grund. Sie würden fragen "Wozu? Unsere Zeitungen sind doch kritisch, wahren Distanz und enthüllen die Sauereien". Dann stünde ich allein da mit einem Angebot ohne Resonanz und Nachfrage. Da es diese Nachfrage aber gibt, sonst würde mit OpenLeaks nicht schon ein weiterer Nachahmer starten, bedeutet doch, dass die Kontrollfunktion, die Wikileaks ausübt, von den etablierten Medien nicht mehr ausgeführt wird. Der Erfolg der Plattform beweist, dass dieses Angebot gefragt ist. Die Journalisten behaupten gerne, sie seien die vierte Gewalt im Staat und würden den Mächtigen auf die Finger schauen. Aber von Ausnahmen abgesehen findet überwiegend das Gegenteil statt. Bestes Beispiel dafür sind Interviews mit Politikern. Denen bietet der Tagesspiegel eine Plattform, sich zu äußern, stellt selbst fragen. Aber wenn jene nicht auf die Frage antworten oder ausweichen, dann wird nicht nachgehakt. Es wird nur die ausweichende Antwort akzeptiert, dann wird zum nächsten Thema übergegangen. Nachfragen, bissige Fragen, die den Finger in die Wunde legen: Fehlanzeige. Da frage ich mich, warum das so ist. Vermutlich bekommen Sie den Gesprächspartner dann nicht mehr und verlieren Zugang zu Ihnen. Aber bei der jetzigen Praxis verlieren Sie Ihre Leser und Ihre Glaubwürdigkeit. Ich würde mich, ob dieser unkritischen Zeitungspraxis, keinem Journalisten anvertrauen. Der kann mich beim Chef verraten und eine Belohnung einstreichen oder der Quellenschutz kann versagen. Insofern stellt Wikileaks eine Ergänzung zu den vorhandenen Medien dar, weil diese einen journalistischen Bereich (die Enthüllung) so vernachlässigt haben, dass Wikileaks diese Lücke füllt und Ihre Vertrauenswürdigkeit so leidet, dass man ihnen auch nicht zutraut, sie von selbst wieder auszufüllen. Zum zweiten Bereich, dem Selbstverständnis der Journalisten. Ich habe den Eindruck, dass die Einordnung der Veröffentlichung in den Kategorien von gut und schlecht nur davon abhängt, auf welcher Seite man steht. Ist man etabliert, findet man sie schlecht, will man sich den Ruf erst noch erarbeiten, findet man sie gut. Dabei wird von Kritikern die Transparenz zum Anlass genommen, Wikileaks als brandgefährlich darzustellen und sich selbst als vernünftig und staatstragend. Aber entscheidend ist doch nicht, auf welcher Seite man steht, sondern welche Argumente besser sind und wie man sie abwägt. So kann man doch zu einem ausgewogenen Urteil kommen, ohne alles gleich zu verdammen. Diese Basisarbeit wird aber kaum noch geleistet. Transparenz ist doch gut, um aufzuklären und sich ein Urteil bilden zu können. Sie schadet aber dort, wo Rechte Dritter verkürzt werden. Sie kann aber dennoch höherwertig sein, wenn die Rechte Dritter nur unerheblich beeinträchtigt sind oder die Transparenz selbst höherwertige Rechte schützt. Beispiel: Es wird veröffentlicht, dass ein Minister eine bestimmte Kaugummimarke mag, daraufhin werden zehn Informanten getötet. Hier wäre nur wegen des Essverhaltens keine Transparenz geboten. Kann man aber das wahre Verhältnis einer Weltmacht zu den Verbündeten (und hier wird ja auch gelogen, siehe der vorherige amerikanische Präsident) um den Preis von zumutbaren Unannehmlichkeiten für den Botschafter enthüllen, ist Transparenz gut. Auch die Arbeitsweise, Teilinfos nicht zu schwärzen und maximale Offenheit zu bieten, kann gut und auch schlecht sein. Es kommt eben auf den Einzelfall an. Und trotzdem kann Wikileaks selbst gut sein. Generell finde ich, dass sich Journalisten in den letzten Jahren von Hinterfragern und Einordnern zu unkritischen Bericherstattern gewandelt haben. Sie betrachten sich nicht mehr als Vertreter der Leser, sondern wollen die Nachricht an den Leser verkaufen, als "Informationsdealer". Dabei nehmen sie eine dem Leser entgegenstehende Position ein, die sich mit dessen Interessen nur noch teilweise überschneidet. Oft berichten sie nicht mal mehr selbst, sondern schreiben von deutschen, englischen und amerikanischen Konkurrenten ab (beliebt sind ja NYT, Economist und WSJ), oder es wird Agenturmaterial pur gedruckt. Dieser Wandel im journalistischen Erscheinungsbild wird von den Lesern beachtet und negativ quittiert. Im dritten Teil gehen Sie zum Verhältnis der neuen Medien zu den alten ein und beschreiben die Zusammenarbeit von Wikileaks als Informationslieferant und "Monitor" als Informationsverarbeiter. In der Tat können hier die Etablierten von Wikileaks profitieren, indem sie eine eigenständige Leistung an den Konsumenten bringen. Aber mir drängt sich auf, dass die eigentliche übergeordnete Frage von Wikileaks und allen anderen neuen Diensten im Internet folgende ist: Wie kann man das gewachsene Geschäftsmodell Journalismus in Form von Zeitung, Radio und Fernsehen ins Internet transportieren? Wäre Wikileaks kein Konkurrent, würde man nicht so harsch kritisieren. Und da diese Frage noch nicht beantwortet ist, wird die Kritik und der Zustand der Ungewissheit noch weitergehen und jede neue Veröffentlichung von Internetdokumenten wird zu endlosen Legitimitätsdiskussionen ("Darf man das?") führen. Ich glaube, dass sich alle Medien wandeln und mit dem Internet verschmelzen werden, wie es ja teilweise schon der Fall ist in Form von Streaming und Apps. Aber es wird derjenige das Rennen machen, der erkennt, dass Internet Dialog und Interaktion bedeutet. Das wissen Sie als Redakteur besser als ich. Wenn der Tagesspiegel den Mehrwert des Internets in sein bestehendes Geschäft einbindet und die Basisarbeit nicht vernachlässigt, wird er immer erfolgreich sein. Wenn die Redakteure mit den Lesern reden, statt über sie, sind sie erfolgreich. Wenn sie für die Leser berichten, statt nur über Ereignisse, sind sie erfolgreich. Wenn sie den Leser einbeziehen, statt ihn auszuschließen, haben sie Erfolg. Warum dazu nicht auch Filme anbieten? Oder ab und zu eine Art Leserchat oder Forum. Wenn sie wissen, was Ihre Leser interessiert, können sie darauf eingehen. Redakteure, die schmollen, wenn sie in den Kommentaren nicht gut wegkommen, sind von gestern. Gebraucht werden solche, die wissen, ob die Kritik berechtigt ist oder nicht. Ihre Zukunft ist nicht grau, sondern nur anders. Mit freundlichen Grüßen M. Gemeinhardt

Den Artikel von Markus Hesselmann, auf den Matthias Gemeinhardt sich bezieht, finden Sie hier.

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