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In Western-Manier präsentiert sich Wladimir Putin. In welcher Welt lebt er?

© dpa

Wladimir Putin und die Ukraine-Krise: Der schöne Schein des Untergrunds

Wladimir Putin erhält seine Macht indem er eine Scheinwelt aufrecht erhält, findet Jerzy Maćków. Wie gut, dass sein Volk belogen werden will. Eine Analyse von Putins Rolle in der Ukraine-Krise.

In einem Telefongespräch, das Angela Merkel nach der russischen Aggression auf der Krim mit dem amerikanischen Präsidenten führte, soll sie über ihr kurz davor geführtes Telefonat mit Wladimir Putin entsetzt berichtet haben: „Der Mann lebt in einer anderen Welt!“

Seitdem der Inhalt dieses Gesprächs – gewiss nicht ohne das Zutun der Kanzlerin oder Barack  Obamas – bekannt wurde, wird dieser Satz immer wieder zitiert. Zeugt Putins vermeintlicher Realitätsverlust vielleicht von einer psychischen Erkrankung? Diese Frage darf nicht heruntergespielt werden, ist die Antwort auf sie doch möglicherweise für das richtige Verständnis der Ukraine-Krise zentral. Wenn der russische Staatspräsident tatsächlich psychisch krank wäre, dann müsste auch der überwiegenden Mehrheit der Russen, die seine Politik der letzten Monate bekanntlich begeistert unterstützen, organische Psychose oder Schizophrenie attestiert werden. In Deutschland wird diese Sichtweise von niemandem vertreten, weil sie impliziert, dass auch die Deutschen seinerzeit verrückt gewesen waren. Aber man muss kein Deutscher sein, um diese Diagnose  abzulehnen. Sie ist zu einfach. Es bleibt also herauszufinden, in welcher Welt der russische Präsident denn so leben soll.

Putin ist mehr als ein Aufsteiger mit Minderwertigkeitskomplexen

Ungeachtet der ungebändigten Eitelkeit Wladimir Putins sowie seiner Vorliebe für derbe Sprüche und Kasernenwitze wurde er bis dato von seinen politischen Partnern im Westen für einen Staatsmann gehalten, der das vom Zeitgeist diktierte populistische Politik-Verständnis auf „die russische Art“ bloß übertreibt. Was würden wir denn nicht alles tun, um gewählt zu werden, mögen sich die Politiker-Kollegen aus der freien Welt nachsichtig gefragt haben, als sie auf einem bekannten Foto den halb entblößten Wladimir, in Western-Manier auf einem Pferd reitend, gesehen haben.

Man soll aber selbst die Menschen, die man gut zu kennen glaubt, nicht voreilig nach dem eigenen Maßstab messen. Putin ist jedenfalls bedeutend mehr als ein Aufsteiger, der – selber von Minderwertigkeitskomplexen, die jeder Beobachter nachvollziehen kann, „gesegnet“  – mit der Seele seines Volkes umzugehen weiß. Er ähnelt zwar durchaus seinen Freunden und Bewunderern im Westen darin, Menschen und ganze Völker in mehr- oder minderwertige einzuteilen. Augenblicklich teilen sie die Missachtung für die russischen Demokraten, Krimtataren und Ukrainer. Ein deutscher Publizist urteilte über die letztgenannten Siebenundvierzigmillionen unmissverständlich, sie seien „für den Westen“ (womit er offenbar die eigene Wenigkeit meint) nicht wichtig genug.

Doch im Gegensatz zu diesen „Putin-Verstehern“, die sich ihr sozialdarwinistisches Weltbild in der übersättigten Realität ihrer Welt zusammen gebastelt haben, ist Putin ein notorischer Weltenwanderer. Für einen ehemaligen KGB-Agenten, dazu noch im Ausland tätig, war das nichts Ungewöhnliches. Aber er wandert auch als russischer Staatspräsident wie selbstverständlich zwischen der Welt, in der sich die Leser dieser Zeitung, Barack Obama und auch Angela Merkel befinden, und einer Illusion, die hier „der schöne Schein des Untergrundes“ genannt wird.

Russland kennt weder politischen Wettbewerb noch freie Wahlen

In Western-Manier präsentiert sich Wladimir Putin. In welcher Welt lebt er?
In Western-Manier präsentiert sich Wladimir Putin. In welcher Welt lebt er?

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„Underground“ lautet der Titel des Films, in dem der geniale serbische Regisseur Emir Kusturica  eine Parabel entwirft, die den Kommunismus besser erklärt als die meisten deutschen Politikwissenschaftler es je getan haben. Die Menschen fristen ihr beschwerliches Dasein in einem komplex ausgebauten Keller- und Tunnelsystem. Die Halunken, von denen sie angeführt werden, belügen sie, dass die Entbehrungen ihrer Untergrund-Existenz wegen des draußen gegen „die deutschen Faschisten“ geführten Krieges unverzichtbar sind. Ihre eigenen Eskapaden in d er sonnigen, friedlichen Welt, die den Normalsterblichen des Untergrundes vorenthalten bleibt, geben die Betrüger als ihren heroischen Einsatz im „antifaschistischen Kampf“ aus.

Von Russland aus wurde der Untergrund regiert

In der kollektiven Erinnerung der Deutschen, Polen, Tschechen oder Ungarn fungiert der vor einem Vierteljahrundert zusammengebrochene Untergrund als ein Konglomerat aus Mangelwirtschaft, Privilegien, Unterdrückung, Unfreiheit und Lüge. Trotzdem hat sich in diesen Ländern mittlerweile die von anspruchslosen Massenmedien transportierte Verklärung  dieser tragischen Alltagstristesse zum grauen Varietee, in dem Menschen niedliche kleine Autos aus Plastik und Pappe fuhren und überall bespitzelt wurden, breit gemacht. Immerhin wurden ehemalige Funktionäre und Ideologen des Untergrundes wie auch Offiziere dessen Geheimdienstes nach dem Zusammenbruch einem starken Anpassungsdruck ausgesetzt. Mittlerweile fühlen sie sich in den oft unschönen, rachitischen Demokratien ihrer Länder recht wohl. Wenn sie als Regierung abgewählt werden, treten sie sogar zurück.

Russland, von wo aus der mächtigste, sich über mehrere Länder erstreckende Untergrund der Welt einst regiert wurde, kennt dagegen weder den politischen Wettbewerb noch freie Wahlen, obwohl die Russen ähnlich den anderen Völkern längst aus ihrem Untergrund gekrochen sind. Die meisten von ihnen scheinen jedoch seitdem vom Gefühl der Erniedrigung nach dem aus ihrer Sicht schmachvollen Verlust des unterirdischen Imperiums geradezu erdrückt zu sein. In dem Maße, in dem sie darauf verzichten, gegen ihre alten-neuen korrupten Eliten eine zivilisierte Ordnung aufzubauen, sehnen sie sich die vermeintliche Größe des Untergrunds herbei. Da die einfache Rückkehr dorthin weder möglich noch gewollt ist, wollen sie zumindest daran glauben, dass der Untergrund großartig und sein Untergang die Folge einer niederträchtigen Intrige des Westens war. Sie wollen in einem Lügenkonstrukt leben, das die Tilgung von Millionen und Abermillionen Opfern des Untergrundes aus ihrem kollektiven Gedächtnis mit der Gewissheit verbindet, dass Russland Weltmacht geblieben ist. Dieses Wunschkonstrukt ist so seltsam, wie dessen paradoxe Bezeichnung eben als „schöner Schein des Untergrundes“ zutreffend ist.

Das Volk will belogen werden

In Western-Manier präsentiert sich Wladimir Putin. In welcher Welt lebt er?
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Als Putin an die Macht kam, entsprach er diesem Wunsch bereitwillig. Er schaltete zuallererst die Massenmedien gleich und konstruierte für sein Volk die ersehnte Illusion. Da der Kommunismus mittlerweile nur eine Minderheit seines Volkes anspricht, griff er dabei überwiegend auf andere, diesmal urrussische, einander bedingende politische Traditionen zurück. Die Tradition der  Alleinherrschaft des Zaren vermittelt die Vorstellung, Russland und sein Anführer seien gleich. Der protzig dargestellte Anführer lässt folglich auf die Stärke Russlands schließen. Die Potemkin‘schen Dörfer, wofür der Olympia-Umbau von Sotschi exemplarisch steht, erfüllen von jeher die gleiche Funktion, und sie erlauben darüber hinaus, über die schwer lösbaren, wichtigen Probleme Russlands hinwegzusehen. Die Vorstellung von der feindlichen Umkreisung lässt die Mobilisierung des Volkes zur Verteidigung des Vaterlandes auch gegen imaginäre Gefahren jederzeit zu. Die Überzeugung, Russland habe die russischen Völker zusammenzubringen, rechtfertigt die imperiale Außenpolitik. Der direkt aus dem Kommunismus übernommene  Mythos vom heroischen Untergrund bestimmt schließlich die auf simplen Unwahrheiten basierende Geschichtspolitik.

Putin erkennt im Westen immer wieder den tückischen Gegner

Mit der offensiven Wiederbelebung dieser Traditionen stellte Putin das Selbstwertgefühl der meisten Russen wieder her, wofür er mit hohen Zustimmungswerten belohnt wurde. Nur so kann er übrigens diese Zustimmung gewinnen, gibt er doch ansonsten nicht gerade eine überzeugende Figur ab. Er bekennt sich lautstark zur kommunistischen Vergangenheit, ohne dass er an die kommunistische Idee oder an den Marxismus-Leninismus glaubt. Er erkennt im Westen immer wieder den tückischen politischen Gegner, während er seine beiden Töchter unter der Bewachung der russischen  Geheimdienste ihr Leben in Deutschland und Holland genießen lässt. Er gibt den stets aufopferungswilligen Diener seines Landes, während er offenbar ein riesiges Vermögen angehäuft hat, dessen Wert in keinerlei Verhältnis zu seinem Einkommen als Staatspräsident steht. Wie gut für ihn, dass sein Volk belogen werden will…

Kann die Wirtschaft den Parnter Moskau verändern?

Die schöne Illusion des Untergrunds das ist die Welt Putins, die er selbst mitgestaltet, um in ihr politisch erfolgreich agieren zu können. Er muss sich aber als Staatsoberhaupt auch in der wahren Welt bewegen, in der nicht zuletzt seine westlichen Partner handeln. Diese Realität kann er nicht kreieren und deshalb strengt er sich sehr an, sich ihr anzupassen. Da hier Seriosität und Berechenbarkeit groß geschrieben werden, wirkt er seriös und berechenbar. Es liegt ausschließlich an den westlichen Eliten, dass ihm beides sehr lange abgekauft worden ist. Obwohl die westliche Enttäuschung über die am Anfang des Jahrtausends noch erhofften, aber später ausgebliebenen Erfolge der Zusammenarbeit mit Russland zuweilen groß war, schien das Verhältnis zu Putin geregelt. Man hoffte offensichtlich, die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Zwänge des internationalen Systems würden den schwierigen Partner aus Moskau  irgendwann doch noch positiv verändern.

In den westlichen Eliten wurde niemals  verstanden, wozu ein Politiker, dessen Macht und Zukunft vom schönen Schein abhängt, fähig ist, wenn diese Illusion sich als Seifenblase zu erweisen droht. Die europäische Bewegung des ukrainischen Volkes, das die allermeisten Russen in absoluter Unkenntnis der eigenen Geschichte für eine Klonung von sich selbst halten, unterminierte diese Illusion – gilt doch Kiew in Russland als die „Mutter aller russischen Städte“. Nicht die kriminelle Schöpfung Putins, Wiktor Janukowytsch, sondern der russische Präsident selbst stellte deshalb den wichtigsten Feind des Euromajdans dar. Um dessen Sieg in der Ukraine zu verhindern, musste sich Putin ganz in die illusionäre Welt des Untergrundes begeben, das heißt, sich – zeitweilig – aus der Realität verabschieden. Er hatte den dazugehörigen Mut aufgebracht und „befreite die Krim von der Faschistenregierung in Kiew“. Dann klingelte bei ihm das Telefon – Angela Merkel rief an. Sie konnten nicht anders, als aneinander vorbei zu reden.

Anschließend startete der Präsident noch den „Kampf gegen den Faschismus“ im Osten und Süden der Ukraine, um das ganze Land unter seine Kontrolle zu bringen (was keineswegs automatisch neue Eroberungen bedeutet). Der staatsterroristische Einsatz von russischen „grünen Männchen“ in Uniformen ohne militärische Distinktionen sowie die Drohkulisse der an der Grenze stationierten russischen Armee dienen dazu,  im Nachbarland Zentren des „antifaschistischen“ Untergrundes zu errichten, mit denen der ukrainische Staat erpresst werden kann. Die Entwicklung der vergangenen Wochen zeigt jedoch, dass selbst im ukrainischen Osten die meisten Menschen nicht in den wahren Untergrund gehen wollen.

Die Wirtschaftslage der Russen wird sich verschlechtern

In Western-Manier präsentiert sich Wladimir Putin. In welcher Welt lebt er?
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Trotzdem hat Putin den Nerv seines Volkes wieder getroffen. Die meisten Russen glauben gern die Lüge, dass in der Ukraine „Faschisten an der Macht sind“. Sie glauben zudem bereitwillig, dass im Staat des 1„Brudervolks“, in dem vor dem russischen Einmarsch aus ethnischen Gründen niemand umgekommen war, die Russen bedroht sind. Sie sind davon überzeugt, dass das Ergebnis des Krim-Referendums vom März (96 % für den  Beitritt zu Russland), das alleine schon wegen des Boykotts durch die Tataren (14 Prozent der Bevölkerung) eine Chimäre ist, der Realität entspricht. Sie wollen glauben, dass Russland einen legitimen Anspruch auf den Anschluss noch weiterer Territorien ha t, die sich außerhalb seiner Grenzen befinden. Unabhängig davon, wie sich die Ukraine-Krise weiter entwickelt, mit der „Rückkehr der Krim“ ist nun in Russland der schöne Schein des Untergrundes gerettet worden.

Chauvinistische Begeisterung wird das Land ein paar Jahre stabilisieren

An die Mehrheit der Russen richten sich die Statements ihres Staatspräsidenten, die sich bei nüchterner Betrachtung den Gesetzen der Logik entziehen. Zwar muss er sich darüber freuen, dass seine Botschaft auch in Deutschland oft gut ankommt. Doch nicht auf seine deutschen Bewunderer zielt er damit ab. Für ihn ist es noch zu früh, in die reale Welt zurückzukehren. Er wird die Zeit nach den ukrainischen Präsidentschaftswahlen vom 25. Mai dazu nutzen, die Illusion des schönen Untergrunds zu festigen. Egal, was ihm an antiukrainischen Maßnahmen noch einfällt, wird die chauvinistische Begeisterung in Russland, die dem Export des Staatsterrorismus ins Nachbarland entspringt, sein Regime für einige Jahre stabilisieren.

Obwohl er  sich in der Zukunft darauf wird berufen können, die Weltordnung zu Gunsten Russlands verändert zu haben, wird er innenpolitisch die Schraube immer stärker zudrehen müssen, zumal sich zeitgleich die Wirtschaftslage der Russen merklich verschlechtern wird. Denn seine Entwicklungsstrategie, die nicht auf den Aufbau einer lebendigen Gesellschaft (mit der er nichts anzufangen wüsste), sondern auf Rohstoffexporten basiert, hat ihr Potenzial längst ausgeschöpft, und zwar ungeachtet der hohen Kosten der aggressiven Politik in den letzten Monaten. Gemessen an seinen Möglichkeiten, ist Russland  nach wie vor ein wirtschaftlicher Zwerg.

So oder so  wird sich Putin den Abzug seiner „grünen Männchen“ und seiner Truppen abkaufen lassen. Zum Beispiel kann er fordern, dass die G 9 wieder belebt beziehungsweise der eine oder andere Banker aus seiner Umgebung wieder in seine Villa an der Côte d'Azur oder sein Appartement in New York fahren kann. Und er wird darauf bestehen, dass die Ukraine in der russischen Einflusszone (im „nahen Ausland“ ) bleiben soll. Das habe man doch bereits der sowjetischen Führung versprochen!

Putin wird wieder zum Weltenwanderer

Sobald es so weit kommt, werden ihn seine heute so enttäuschten westlichen Kollegen als den „konstruktiven“ Friedensstifter begrüßen. Niemand wird ihm mehr vorwerfen, dass er in einer anderen Wirklichkeit lebt. Es wird Zufriedenheit darüber geäußert, dass die Krise ohne das kostspielige Einfrieren der Exporte nach Russland gelöst werden konnte. Dann wird er zu seinem Alltagsjob des Weltenwanderers, der sich selbst in der dramatischen Krise bewährt hat, zurückgekehrt sein.

Am 18. Mai wollten die Krimtataren in Simferopol an die 240 000  ihrer Vorfahren erinnern, die vor genau 70 Jahren auf Befehl Stalins nach Zentralasien deportiert worden waren. Die russischen Krim-Behörden haben auf diesen Wunsch mit dem Verbot von Massenversammlungen bis zum 6. Juni reagiert, das sie mit Angst vor Provokationen begründeten, die Extremisten von außerhalb der Halbinsel geplant hätten. Wie beruhigend für das westliche Gewissen, dass die Krimtataren nun auf Dauer vor Faschisten geschützt sein werden.

Jerzy Maćków
Jerzy Maćków

© privat

Prof. Dr. phil. habil. Jerzy Maćków ist ein deutsch-polnischer Politikwissenschaftler und deutschsprachiger Blogger. Seit 2002 hat er den Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Ost- und Mitteleuropa an der Universität Regensburg inne.

Jerzy Maćków

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