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Gruppenbild mit Kanzlerin. Jetzt ist's aber auch genug mit dem Feiern, findet unser Kolumnist.

© dpa

WM 2014 - Politik nach dem Rausch: Geht's raus und ... regiert's!

Die Kanzlerin feiert mit den Weltmeistern in Brasilien. Doch im Taumel der vergangenen WM-Wochen geriet die Politik vollkommen zur Nebensache, meint unser Kolumnist. Dabei gäbe es viel zu tun.

Deutschland jubelt. Eine Nation im Fußballrausch. Auf dem grünen Rasen kommen den Helden die Tränen. Auf der Tribüne im Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro reißen Präsident Gauck und Angela Merkel gemeinsam die Arme hoch. Sepp Blatter, der Patriarch des Weltfußballs, gratuliert artig und auch der russische Präsident Wladimir Putin reicht die Hand zum Glückwunsch. Kein Fußballexperte zweifelt, dass Neuer, Schweinsteiger, Götze und Co. dieses Turnier verdient gewonnen haben. Sie haben gekämpft, gerackert und mit einem kongenialen Kunstschuss das entscheidende Tor erzielt. Ein bisschen Glück gehörte auch dazu. Deutschland ist Weltmeister. Und was für einer?

„Wir sind wieder wer“, heißt es nun. Auf dem Platz sowieso, aber auch darüber hinaus. Fußballweltmeister und Exportweltmeister, München dominiert den europäischen Fußball und Berlin die Europäische Union. Jogi Löw und Angela Merkel stehen für das neue Deutschland: bescheiden, unterschätzt und extrem erfolgreich. Das deutsche Kollektiv hat es allen gezeigt. Das Handelsblatt sieht schon den nächsten Boom auf Deutschlands Wirtschaft zukommen, weltweit werde den Deutschen nun eine Welle der Sympathie entgegenschlagen. Der Spiegel erklärt das Land zur „entkrampften Nation“.

Gemach. Anders als vor 60 Jahren eignet sich der Titelgewinn in Brasilien nicht zum nationalen Erweckungserlebnis und auch nicht als Sound eines neuen deutschen Wirtschaftswunders. Schon 1990 ist es nicht gelungen, nach dem Weltmeistertitel von Rom die deutsche Einheit herbeizujubeln.

Global organisierte Unterhaltungsshow

Fußball ist ein faszinierender Sport. Die vergangenen vier Wochen boten viele spannende Spiele.  Weltmeisterschaften sind zudem eine global organisierte Unterhaltungsshow. Und sie sind ein gigantisches Geschäft, das Milliarden in die Kassen der FIFA und seiner Mitgliedsverbände spült. Und vergessen sollte man bei allem Jubel auch nicht die mafiösen Strukturen, in denen der Weltfußball organisiert ist – Korruption eingeschlossen.

Auch ein Blick nach Spanien zeigt, wie wenig der Fußball die politischen und ökonomischen Geschicke eines Landes beeinflussen kann. Fast ein Jahrzehnt lang hat der spanische Fußball die Welt dominiert. Zwei Mal waren das Team rund um die Stars von Real Madrid und FC Barcelona Europameister, einmal Weltmeister. Und was haben die Erfolge außerhalb des Platzes für das Image, für die Wirtschaft des Landes und den Zusammenhalt des Landes gebracht? Nichts! Das Land steckt tief in der ökonomischen und politischen Krise. Die Katalanen rufen lauter denn je nach der Unabhängigkeit. Spieler wie Jordi Alba, Sergio Busquets oder Gerard Piqué würden vermutlich auch für eine katalanische Nationalmannschaft auflaufen.

Wem wäre damit geholfen, jetzt den Sieg von Rio ökonomisch oder politisch zu überhöhen? Angela Merkel ist mittlerweile zwar zu einer Art Maskottchen der Nationalmannschaft avanciert und sie ist nach großen Siegen ein gern gesehener Gast in der Kabine. Die Wähler allerdings werden die Kanzlerin auch in Zukunft an ihren politischen Taten messen und nicht an ihrem Fußballsachverstand. Es gibt für sie überhaupt keinen Grund, sich auf den Lorbeeren der Vergangenheit auszuruhen.

Lange Liste der innen- und außenpolitischen Baustellen

In den vergangenen vier Wochen ist ziemlich in den Hintergrund geraten, vor wie vielen Herausforderungen Deutschland steht. Der Fußball bestimmte die Schlagzeilen, die Politik geriet zur Nebensache.

Mindestlohn, Maut, Energiewende – Irak, Israel, Ukraine: die Liste der innen- und außenpolitischen Baustellen ist lang. Auch der Euro ist längst noch nicht gerettet. Wenn Deutschland wirklich eine neue Rolle in der Welt spielen, seinen politischen Einfluss vergrößern, seine nationalen Interessen im globalen Wettbewerb besser vertreten will, dann reicht es nicht, den Kampfeswillen von Bastian Schweinsteiger und die Schusstechnik von Mario Götze zu bejubeln. (Es reicht im Übrigen auch nicht, in Sachen Geheimdienste mit den USA ein bisschen im Sandkasten zu spielen.) 

Schön war es, aber die Party ist jetzt vorbei. Am Dienstag wird die Nationalmannschaft ihren Fans vor dem Brandenburger Tor in Berlin den goldenen Weltpokal präsentieren. Anschließend bekommt die Trophäe beim DFB in Frankfurt für vier Jahre einen Ehrenplatz. Jogi Löw erhält – wenn er denn will – einen Rentenvertrag als Bundestrainer. Die schwarz-rot-goldenen Fan-Accessoires kommen in den Schrank. In sechs Wochen beginnt dann wieder die Bundesliga, der deutsche Fußballalltag. Dann regieren wieder die Farben rot-weiß, gelb-schwarz oder königsblau.

Merkel kann zwar noch ein paar Tage länger feiern. Am Donnerstag wird sie 60 Jahre alt. Aber anschließend möchte man der Kanzlerin und ihrem Team in der Großen Koalition in Abwandlung eines alten Beckenbauer Bonmots zurufen: Jetzt geht´s raus und regiert.

Christoph Seils ist Chefredakteur bei Cicero Online. Seine politische Wochen-Kolumne erscheint regelmäßig auf Tagesspiegel.de.

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