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Annette Schavan kämpft um ihre Doktorwürde.

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Annette Schavan: Das ist doch alles lange her

Bill Clinton hat gekifft, Günter Grass war in der Waffen-SS und Annette Schavan hat eine Doktorarbeit geschrieben. Was ist eine Jugendsünde - und was nicht?

Von Anna Sauerbrey

Annette Schavan war 25 Jahre alt, als sie ihre Dissertation abschloss. Das war 1980. Seitdem hat sie eine Vielzahl öffentlicher Ämter und Mandate wahrgenommen. Sie war Vorsitzende der Jungen Union, leitete das katholische Cusanus-Werk und war ein Jahrzehnt lang Bildungsministerin in Baden-Württemberg. Seit sieben Jahren hat sie dieses Amt im Bund inne, ebenso lang ist sie Bundestagsabgeordnete. Man mag von ihrer Politik halten, was man will – behaupten, diese Frau habe sich nicht engagiert, kann man nicht. Nun fordern manche ihren Rücktritt.

Andere – Parteifreunde, Wissenschaftler, Kommentatoren – halten dagegen, man müsse ihr ihre (wie auch immer zu bewertenden) Fehler als „Jugendsünden“ nachsehen. Sie sprechen damit ein moralisches Bauchgefühl an, das sich grummelnd meldet, wenn in verstaubten Sündenarchiven gewühlt wird, wenn jemandem Fehltritte vorgehalten werden, die Jahrzehnte zurückliegen. Rein psychologisch betrachtet, drückt sich darin ein verschwommenes Bewusstsein für die vielen eigenen kleinen und größeren Verfehlungen aus. All die Dinge, die mit jedem Tag, der vergeht, etwas weniger gut im wohligen Halbdunkel der Vergangenheit zu erkennen sind. Den meisten dürfte es schaudern bei dem Gedanken, jemand könne dieses Zwielicht so gnadenlos ausleuchten, wie es im Fall Schavan geschieht. Wir wissen: Jeder ist fehlbar. Das ist noch ein recht egoistischer Grund für Nachsicht. Doch wie oft bei moralischen Bauchgefühlen lassen sich für dieses Urteil auch gute Kopfgründe finden.

Der Rigorismus, den manche hier am Werk sehen, steht im Widerspruch zu unserer Vorstellung vom frei handelnden Menschen. Der Mensch, so möchten wir es, wird nicht auf die Schiene des Lebens gesetzt und dampft darauf voran, gesteuert aus einer fernen Leitstelle für moralische Determination. Einmal gemachte Fehler bestimmen seinen Weg nicht, im Gegenteil. Wir halten uns für wandelbar.

Wir können runter von der Schiene und es anders, sogar besser machen. Wir können frühere Versionen unserer selbst kritisch sehen, uns regelrecht von ihnen abkoppeln, bis hin zu der Frage: Wie konnte mir das überhaupt passieren? Dieser Gedanke liegt auch der Idee der Wiedergutmachung zugrunde. Ein überdurchschnittliches Maß an guten Taten kann vergangene Fehler wettmachen, so die Idee. In unsere Biografien ist sozusagen eine Art Rechtfertigungsmechanismus eingebaut.

Günter Grass wurde mit 17 Jahren Mitglied der Waffen-SS

Muss man Bildungsministerin Annette Schavan etwaige "Jugendsünden" nachsehen?
Muss man Bildungsministerin Annette Schavan etwaige "Jugendsünden" nachsehen?

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Eine Generalamnestie für Jugendsünden ist dennoch schwer zu begründen. Was als abgegolten gelten kann, ist abhängig vom Kontext der Gegenwart. Das zeigt das Beispiel Günter Grass, der sich in „Beim Häuten der Zwiebel“ damit auseinandersetzte, dass er mit 17 Jahren Mitglied der Waffen-SS wurde. Nicht alle wollten seine Verdienste und das öffentliche Bekenntnis als ausreichende Sühne akzeptieren. Zu gern wollte nach dem zweiten Weltkrieg eine ganze Generation ihre Beteiligung am NS-Regime als „Jugendsünde“ klassifiziert wissen. Bis heute schwingt die Empörung der 68er über diese Selbstentschuldigungsversuche mit, wenn über die Einordnung von Fehltritten als „Jugendsünde“ debattiert wird. Der Begriff hat eine sehr deutsche historische Dimension.

Die Nachkriegsgeneration hatte mit anderen, weniger bleischweren Jugendsünden zu kämpfen. Bill Clinton musste 1992 zugeben, in seiner Jugend Marihuana geraucht zu haben, aus europäischer Sicht war das kein Skandalmaterial. Noch eine Generation später ist „Jugendsünde“ fast gleichbedeutend mit „Geschmacksfrage“. Ein Anfang dieses Jahres herausgegebenes „Lexikon der Jugendsünden“ zählt Zahnspangen, grässliche Musik (Right Said Fred) und die falschen Männer (David Hasselhoff) dazu. Vielleicht ist diese Generation deshalb umso gnadenloser: Sie kennt nur Scham, nicht Schuld.

Beim Betrachten dieser Beispiele schälen sich Kategorien für die Bewertung von Jugendsünden heraus. Zum einen ist da die Schwere des Fehltritts. Die Schwere des „Delikts“ ist schließlich auch die Grundlage für die Verjährung im Strafrecht, die Fristen richten sich nach dem angedrohten Strafmaß, Mord verjährt nie.

Das Zweite ist das Alter des Delinquenten. Je jünger ein Mensch ist, desto weniger frei handelt er, unterstellen wir, er vermag die Konsequenzen weniger zu durchdringen als ein älterer Mensch mit breiterem Wissen.

Drittens ist die Frage wichtig, wie stark Jugendsünde und späteres Leben verknüpft sind, wie groß der Bruch und die späteren Verdienste waren.

Was heißt das für den Fall Schavan? Vieles hängt davon ab, für wie gravierend die Kommission die Verstöße am Ende hält. Ein Zusammenhang zwischen Schavans Jugendsünde und ihrer heutigen Tätigkeit besteht sicher, auch war sie mit ihren 25 Jahren bei Abschluss ihrer Dissertation nicht mehr allzu jung. Dass sich allerdings ihre Fehler als 25-Jährige wie ein roter Faden durch ihr Leben gezogen hätten, lässt sich auch kaum behaupten. Günter Grass ist nicht sein Leben lang mental SS-Mitglied geblieben. Der US-Präsident Bill Clinton war nicht der Kiffer Bill Clinton. Und die Bildungsministerin Annette Schavan ist keine Plagiatorin.

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