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Antisemitismus: "Du Jude" - Ist das nur so ein Wort?

Es war eine sehr deutsche Woche: 70. Jahrestag der Wannsee-Konferenz, Holocaust-Gedenktag und die Veröffentlichung einer neue Studie zum aktuellen Antisemitismus. Sie zeigt: Der Hass ist immer noch weitverbreitet, virulent, aktiv. Was tun dagegen?

Von Caroline Fetscher

Also, seufzte die junge Frau schwärmerisch, sie bewundere die Juden. Wirklich. „Denen gehören doch in Amerika sämtliche Banken! Und fast alle Konzerne!“ Wie die das fertigbrächten, daran könne man sich echt ein Beispiel nehmen.

So sprach die aparte Brünette in einem Zugabteil der Deutschen Bahn, vor rund zwei Jahren. Sie meinte all das als Kompliment an einen Mitreisenden, mit dem sie ins Gespräch gekommen war, ein in Deutschland lebender Gastronom aus Israel. Ihr Gegenüber, schäbiges Sakko, um die sechzig Jahre alt, lächelte nachsichtig. Nun, es gebe überall reiche und arme Juden, ihre wirtschaftliche Rolle sei weitaus geringer, als oft angenommen. „Ach?“, protestierte die junge Frau, „ganze Imperien haben Leute wie Rockefeller aufgebaut, Leute wie Henry Ford!“ Hier lachte der Mitreisende kurz. „Henry Ford war ein bekannter Antisemit, und Rockefeller ist auch nicht jüdisch.“ Dass jemand derart schlecht unterrichtet sei, noch dazu als Israeli, das wunderte die Frau ernsthaft. Schließlich wusste sie als Betriebswirtin diese Sachen von ihrem Chef, der in solchen Fragen allerhand auf die Juden hält. „Lesen Sie nach“, empfahl der Herr im Plauderton, „informieren Sie sich ein bisschen.“ Dann wechselten sie das Thema.

Noch eine Vignette aus dem Alltag der Gegenwart. In einer Stadt im Rheinland, das erzählte ein Journalist neulich unter Kollegen, ermunterte ihn ein gebildeter Jurist: „Geben Sie’s ruhig zu: Sie dürfen in Ihrer Zeitung nichts Negatives über irgendwelche Juden schreiben!“ Unsinn, erwiderte der, man dürfe in der freien Presse alles schreiben. „Verstehe schon“, begütigte der Mann leutselig, „Sie müssen so antworten, ist ja okay.“

Muss man immer wieder bei null anfangen? Kein Zweifel. Man muss immer wieder bei null anfangen, sollen stereotype Repräsentationen von Juden eines Tages zu hundert Prozent aus der Welt geschafft werden. Zwanzig Prozent der Deutschen, zu dem Schluss kommt eine aktuelle Studie, seien latent oder offen judenfeindlich. Der Bericht, Drucksache 17/7700 des Deutschen Bundestages, verfasst von einem unabhängigen Expertenkreis, trägt den Titel „Antisemitismus in Deutschland – Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze“. Wie Dutzende zuvor kommt er zu dem alarmierenden Schluss: Es gibt ihn noch, den Antisemitismus in Deutschland. Er ist weitverbreitet, virulent, aktiv.

Antisemitische Tendenzen aber, so heißt es in der Studie einführend, „berühren nicht nur die Frage nach Verlässlichkeit und Funktionstüchtigkeit der demokratisch-pluralen Grundlage dieses Staates und seiner Gesellschaft, sondern auch die notwendige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, der zum größten Völkermord in der Menschheitsgeschichte geführt hat“. Antisemitismus, heißt es, tarne sich heute gern als Israel-Kritik, und er durchzieht alle Milieus.

Latent judenfeindliche Einstellen hat jeder fünfte - mindestens

So ist es. Dass jeder fünfte im Land latent judenfeindliche Einstellungen besitzt, scheint dabei konservativ geschätzt. Darunter fallen zum Beispiel jene, die auf die Frage, ob Juden „zu viel Einfluss“ auf die Gesellschaft ausüben, mit Ja antworten. Nie würde sich die nette, junge Betriebswirtin aus dem Zugabteil als Antisemitin empfinden, ebenso wenig der rheinländische Jurist. Statistisch vermutlich kaum erfasst wird der Salon-Antisemitismus bei den Funktionseliten, der nach einigen Gläsern Wein aufflackert, wenn es, „mal ehrlich“, heißt, den Juden gehe es doch „immer nur ums Geld“. Tagsüber hält man sich hier diskret bedeckt, mit den Codes von Fragebögen weiß man umzugehen.

All diesen Ansichten liegen exakt dieselben gefährlichen Klischees zugrunde, die vor zwei Generationen dazu geführt haben, dass am Wannsee Schlachthäuser für Menschenmassen geplant und sechs Millionen Frauen, Männer und Kinder ermordet wurden. Klischees, die in der politischen Regression des heutigen Ungarn sich teils erneut in einer Staatsdoktrin wiederfinden könnten.

Langsam, Moment mal! So weit wird es heute nirgends mehr kommen. Noch ehe solche Argumente beim Punkt angelangt sind, glüht das Gegenargument schon vor: Übertreibung, Skandalisierung, Hysterie! Aber die Rede ist nicht von einem weiteren Auschwitz, sondern von einer Bestandsaufnahme der Gegenwart, vom Klima der Gesellschaft, das sich statistisch nicht fixieren lässt. Rechtsextreme Parolen sind zum Beispiel, gänzlich uncodiert, auf Fußballplätzen wie Schulhöfen gang und gäbe. „Du Jude!“ gehört dort, wie „Du Opfer!“, seit Jahren zu den gebräuchlichen Schmähworten. Im Mai 2008 wollte ein Teilnehmer des Internetforums „Netz-gegen-Nazis“ einen Schüler beruhigen, der in der Klasse mit „Du Jude“ angepöbelt worden war. Viele Jugendliche sähen das doch „nur“ als irgendein Schimpfwort. Nur so ein Wort, einfach so gesagt: Das sind Strategien der Abwehr.

Der Psychologe Ahmad Mansour, in Berlin lebender Palästinenser, erklärte diese Woche im Deutschlandfunk, seit drei, vier Jahren habe der Antisemitismus an Schulen spürbar zugenommen. Israel gelte bei vielen Migranten als der „große Satan“, dabei wüssten sie wenig Genaues. Eingewandert sei ein solches Denken mit den Familien, es habe zu tun mit verunsicherter Identität. Mit solchen Erklärungen verlieren Experten wie Christian Böhme, ehemals langjähriger Chefredakteur der „Jüdischen Allgemeinen“, die Geduld. Verweise auf Bildungsferne, soziale Brennpunkte und bedrückende Verhältnisse unterschätzen die reale Bedrohung, die von der Judenfeindschaft bei Muslimen ausgeht, und die sich verschärft, wo „antijüdische Propagandakost ungehindert durch Fernsehsender wie Al Manar frei Haus geliefert wird“, so Böhme. Aus Antizionismus, Anti-Israelismus und Antisemitismus entsteht ein toxisches Amalgam, das insbesondere auf den Schulhöfen in Mengen gedealt wird.

In der Schule hatte er die Veränderung zuerst bemerkt, schrieb der jüdische Arzt und Psychoanalytiker Hans Keilson, geboren 1909, über seine Kindheit im brandenburgischen Bad Freienwalde. Keilsons Erinnerungsbuch „Da steht mein Haus“ kam 2011, kurz vor seinem Tod, heraus. „Es waren nicht persönlich erfahrene Attacken und Verunglimpfungen, die in meine Kinderwelt eindrangen und sie verunstalteten“, schrieb er. „Es war das Allgemeine, Atmosphärische, in oft schwer zu erfassenden Sinnzusammenhängen.“ Wie sich das NS-Klima auf der Täterseite anfühlte, versuchte Hans Fallada in seinem nun erstmals ungekürzt publizierten Roman von 1947 „Jeder stirbt für sich allein“ zu erfassen; den mörderischen Mief aus Misstrauen, Neid, Hohn, Habgier, Sadismus und Hass von damals, als ganz Deutschland quasi in eine einzige, monströse „Zwickauer Zelle“ umgebaut wurde.

Manifeste Spuren dieses Klimas hielten sich lange, trotz Reeducation durch die Alliierten, deren konstante Meinungsumfragen das belegten. Inzwischen wurden die Schweigekartelle der Nachkriegsjahre abgelöst durch Gedenkstätten und Trauerrituale, Besuche beim Holocaust-Mahnmal gehören zur Exkursion von Schulklassen, Lehrer vermitteln die Schoah im Geschichtsunterricht. Als Redner am Holocaust-Gedenktag erinnerte Marcel Reich-Ranicki, Überlebender des Warschauer Gettos, soeben den Bundestag daran, was der Völkermord an Europas Juden, der ungeheuerliche Verrat an der Menschheit, bedeutet hat.

Jede Epoche konstruiert sich der Antisemitismus sein Feindbild neu

Vor zwei Wochen stellte der Publizist Rafael Seligmann seine neue Zeitschrift „Jewish Voice from Germany“ mit dem schönen Argument vor, jüdisches Leben in Deutschland sei heute weitaus mehr als nur Erinnerung an Opfer und Leid. Auf der Titelseite der ersten Ausgabe sind jüdische Schulkinder in Berlin zu sehen, muntere, aufgeweckte, angstfreie Kinder. Gleich neben dem Foto stellt aber der Leitartikel von Heribert Prantl klar, wie unhaltbar es ist, dass die NPD als „staatlich finanzierte, kriminelle Organisation“ erlaubt bleibt. Und die „Jewish Voice from Germany“ ist nicht das einzig sichtbare Symptom. Unermüdlich sammeln und versenden Initiativen wie „Honestly Concerned“ Informationen zum heutigen Antisemitismus, ebenso unermüdlich mühen sich Organisationen wie das American Jewish Committee in Berlin um Aufklärungsarbeit gegen Xenophobie und Rassismus an Schulen.

In jeder Epoche hat sich der Antisemitismus sein Feindbild einer Minderheit analog zu Sündenbockbedürfnissen konstruiert. Juden im Mittelalter galten als „Brunnenvergifter“, sie wurden zu „Wucherern“ und „Hehlern“, später, je nach Bedarf, zu Bolschewiken oder Kapitalisten, in nationalsozialistischer Biopolitik zur genetischen Bedrohung eines imaginären „Volkskörpers“. Nach dem Zweiten Weltkrieg besaßen Juden zum ersten Mal ein eigenes Land, auf das Antisemiten ihre Affekte projizieren können. Museumspädagogen im Haus der Wannsee-Konferenz bekommen öfter von besorgten Zeitgenossen zu hören, es sei „tragisch“, dass „ausgerechnet die Juden“ sich gegenüber Palästinensern „wie die Nazis“ verhielten.

„Antisemitismus in unserer Gesellschaft basiert auf weitverbreiteten Vorurteilen, tief verwurzelten Klischees und auf schlichtem Unwissen über Juden und das Judentum“, resümiert der Londoner Historiker Peter Longerich, der an der Studie für den Bundestag mitgewirkt hat. Aber die Deutschen, die sich ab 1933 Rassenhass und Massenmord widmeten, wussten sehr wohl, wer „die Juden von nebenan“ waren. Sie waren Ärzte und Anwälte, Handwerker und Polizeibeamte, Veteranen des Ersten Weltkriegs – wie der Vater von Hans Keilson –, Sportler und Politiker, Gelehrte und Handwerker. Adolf Eichmann verkündete gegenüber ehemaligen NS-Kameraden im argentinischen Exil, die Juden mit ihrer traditionell hohen Bildung und Rechtskultur seien ihm ein Dorn im Auge gewesen, er werfe sich vor, von den mehr als zehn nur sechs Millionen ausgelöscht zu haben.

Wir wissen all das. Man kann es nachlesen, wie der Herr im Zugabteil der jungen Dame empfahl. Aber das allein reicht nicht. Eine seiner klarsten Aussagen trifft der Bericht an den Bundestag, wo er feststellt, dass umfassende Strategien zur Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland schlicht nicht existieren. Die wird es erst geben, wo emotionale Bildung – Grundlage jeder Ethik – so ernst genommen wird wie Wissensvermittlung und museales „Gedenken“.

Dazu die letzte Vignette. Eine Nachhilfelehrerin aus Hamburg unterrichtete zwei Teenager. Die Brüder, cool, pubertär, ostentativ angeödet vom Schulstoff, erwachten aus ihrem Lernkoma, als Judenverfolgung Thema wird. Gräueltaten! Plötzlich feuerten die Synapsen, die Augen blitzten: „Ist ja voll krass!“ Davon wollen sie mehr wissen, Misshandlungen, Folter: „Echt? Was haben die sonst noch alles mit denen gemacht?“ Ihre eigene Situation, gekränkt von miserablen Schulnoten und misslaunigen Eltern, verstrickte sich mit der Fantasie, dass es da ein Szenario gab, worin man sich an „Anderen“ ungehemmt schadlos halten durfte. Im Teenageralter ist es schon fast zu spät für das Legen einer ethischen Basis; das emotionale Flussbett hat sich seinen Pfad schon weitgehend gebahnt, und psychische Umorientierung erfordert enorme Kräfte.

Tatsächlich ist es vorbildlich, was einige Bildungsinstitutionen versuchen, wie etwa Berlins Anna-Lindh-Grundschule, wenn sie schon mit jüngsten Schülern Themen wie Ausgrenzung, Angst und Vorurteil empathisch erarbeiten. In der Prävention ist das sicher der beste, der goldene Weg. Deshalb hat es etwas Heuchlerisches, wenn Schulen für solche Projekte gelobt oder ausgezeichnet werden. Denn im öffentlichen Lob steckt die unverbindliche Aufforderung, es der „tollen Schule“ gleichzutun, während das Lob gerade deren Position als Ausnahme entlarvt, die sie nicht sein sollte. Mehr als alles andere ist die Konferenz der Kultusminister gefragt, sich, orientiert an der besten Praxis, auf Curricula und Richtlinien zu einigen – wobei der Grundsatz gelten muss: Je früher begonnen wird mit emotionaler Bildung und inhaltlicher Aufklärung, desto besser.

Hass-Prävention kostet Geld. Die Nazis, sagt Hans Keilson in seinem Erinnerungsbuch, sind „zugrunde gegangen an ihrem Hass“. Will eine Gesellschaft eher Liebe, muss sie freigiebig sein. Hier zuerst.

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