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Anhänger der islamistischen Ennahda feiern den Wahlsieg in Tunis.

© Reuters

Arabellion: Die Islamisten-Umarmung

Jahrzehntelang haben Amerikaner und Europäer die säkularen arabischen Despoten hofiert. Das war falsch, sagt Malte Lehming. Doch warum dienen sie sich nun ebenso unkritisch den neuen, streng muslimischen Herrschern an?

Die islamistische Ennahda-Partei hat in Tunesien die ersten demokratischen Wahlen nach dem Sturz des alten Regimes gewonnen. Der Sieg fiel deutlich aus. In Tunesien begann die Arabellion, der Aufstand gegen die Despoten, auch deshalb ging von dieser Wahl ein wichtiges Signal aus. Nach dem Erfolg der Islamisten ist der Tenor in der deutschsprachigen Presse positiv. Einige Kommentar-Überschriften lauten: „Moschee im Dorf lassen“ (tageszeitung), „Leben mit dem Islam“ (Süddeutsche Zeitung), „Keine Angst vor Islamisten!“ (Berliner Zeitung), „Keine Furcht vor Islamisten“ (Neue Zürcher Zeitung), „In Tunesien wächst die Demokratie“ (Handelsblatt).

Tatsächlich gibt es gute Argumente dafür, warum die Reizworte „Islamismus“ und „Scharia“ im Westen nicht automatisch zu Angstschweiß, rasendem Puls und anderen Symptomen von Panikattacken führen sollten. Die Wahl war fair, die Beteiligung relativ hoch, das Land ist gesellschaftlich einigermaßen stabil, es gehört zu den wohlhabendsten in der Arabischen Liga, ist in die Weltwirtschaft integriert, der Bildungsstand ist hoch. Die Ennahda wiederum wird mit anderen, säkularen Parteien koalieren müssen, was sie zum Pragmatismus zwingt. Parteichef Rachid al-Ghannouchi hat erklärt, kein zweiter Chomeini sein zu wollen, sondern sich an der türkischen AKP zu orientieren. Das heißt unter anderem: Frauenrechte würden nicht beschnitten, Alkohol nicht verboten.

Dennoch erstaunen die Appelle an unsere Gelassenheit ein wenig. Denn ganz unterschlagen sollte man nicht, wer zum Beispiel der Wahlsieger Ghannouchi ist. Die Nachrichtenagentur AFP nennt ihn einen „moderate Islamic radical“, worin die ganze Bandbreite seiner Überzeugungen enthalten ist. Die Hamas etwa verehrt den 70-Jährigen als einen ihrer Vordenker, was kaum verwundert, da Ghannouchi Selbstmordattentate auf israelische Zivilisten ausdrücklich gutheißt. Er unterscheidet ohnehin nicht zwischen Kombattanten und Zivilisten in Israel, weil ja alle Teile der Bevölkerung – und sei es als Reservisten – zur Besatzung beitrügen.

Palästinensische Selbstmordattentäter und deren Mütter segnete Ghannouchi vor zehn Jahren in einer von Al-Dschasira ausgestrahlten Fernsehsendung. Die „Märtyrer“ und ihre Mütter seien neue Vorbilder. Den von den „USA unterstützten arroganten Israelis“ hätten sie eine „wichtige Lektion“ erteilt. In den USA hat Ghannouchi Einreiseverbot, auch weil er Mitglied im „European Council for Fatwa and Research“ ist – eine Organisation, die unter anderem das Töten muslimischer Intellektueller erlaubt, die sich gegen die strenge Interpretation des Islam aussprechen.

Keiner erwartet von den Völkern, die sich zum Teil unter großen Opfern aus jahrzehntelanger Diktatur befreit haben – Tunesier, Ägypter, Libyer -, dass sich ihre Länder über Nacht in eine Art Schweiz verwandeln. Der Wandel braucht Zeit und von Wohlwollen begleitete Hoffnung. Das aber darf den Westen nicht stumm machen. Fehlentwicklungen gehören benannt und eventuell angeprangert. Oberste Richtschnur im Urteil sollten die Menschenrechte sein. Dazu gehören die Meinungs- und Religionsfreiheit. 

In Ägypten, das hat die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch ermittelt, wurden seit dem Sturz von Hosni Mubarak bereits 12.000 überwiegend junge Menschen von Militärgerichten verurteilt, das sind mehr als während der gesamten, drei Jahrzehnte währenden Mubarak-Tyrannei. Einer von ihnen ist der Blogger Maikel Nabil, ein koptischer Christ, der es gewagt hatte, die neuen Militärmachthaber zu kritisieren. Inzwischen soll er sogar in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen worden sein. Familienmitglieder haben keinen Zugang zu ihm.

In Artikel 18 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der Uno steht: „Jeder Mensch hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder seine Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen in der Öffentlichkeit oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst oder Vollziehung von Riten zu bekunden.“ Wie halten es die neuen arabischen Herrscher damit? Ghannouchis Haltung zur Apostasie ist klar. Das islamische Recht schließt für ihn eine Abkehr vom Glauben aus. Er verurteilt sie als Meuterei und Verrat, die als solche hart zu bestrafen sei.

Es war falsch von Amerikanern und Europäern, die säkularen Despoten im arabisch-muslimischen Raum zu hofieren. Ebenso falsch wäre es aber auch, sich nun den neuen, überwiegend islamistischen Herrschern unkritisch anzudienen. Stabilität ohne Moral: Das darf weder im einen noch anderen Fall unsere außen- und sicherheitspolitische Maxime sein. Sonst hätten wir nichts aus der Geschichte gelernt.

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