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Meinung: Archipel Hartz IV

Fordern statt fördern: Sozialhilfe darf nicht zum Lebensstil werden Von Gunnar Heinsohn

Wer die Hartz-IV-Armut von 37 Prozent aller Kinder Berlins oder von einem Sechstel der Kinder Deutschlands in Zweifel zieht, weil die doch entschieden mehr hätten als ihre Altersgenossen in Bangladesch, wird zu Recht als Zyniker in die Schranken gewiesen. Gewiss geht es den Sozialgeld-II-Jugendlichen besser als 90 Prozent aller Kinder in der Welt. Aber die Transferbezieher können ja nicht einfach in die Dritte Welt abwandern, um sich mit unseren Mitteln aus relativ Armen hier in relativ Reiche dort zu verwandeln.

Wer jedoch aus der Dritten Welt nach Neukölln schaut, vergleicht seine aktuelle Lage mit den Transfereinkommen von Landsleuten, die dort bereits angekommen sind. Diese mehr als zehn Millionen seit 1990 – zu 90 Prozent die Abgeschlagenen und Schulversager ihrer Herkunftsgebiete – wiederum vergleichen ihre neue Lage mit dem Elend in der alten Heimat.

Diese Neubürger betrachten Hartz IV nicht so sehr als karge Strafkolonie, aus der man nur schwer wieder herauskommt, sondern als einen Archipel mit staunenswertem Versorgungsniveau. Keiner kann einen wegjagen, solange man sein Aufenthaltsrecht nicht etwa dadurch verspielt, dass man kinderlos bleibt und dann für jede Arbeit zur Verfügung stehen muss. Wo also der Außenblick sich über immer mehr Armut entsetzt, sieht der Innenblick eine beschützte Insel, die gerade wegen der dauernd steigenden Summen immer mehr Menschen für den Rest ihres Lebens vor absoluter Not bewahren soll.

Während die statistische Mutter 1,4 und die ethnodeutsche sogar nur 1,2 Kinder hat, leben 2007 im Hartz-IV-Archipel 492 000 Bedarfsgemeinschaften, die mit zwei, drei, vier oder mehr Kindern weit über dem bundesdeutschen Durchschnitt liegen. Ihre Zunahme um 17 Prozent in nur zwei Jahren zeigt, dass diejenigen Bewohner des Archipels, für die er rettendes Neuland ist, seine Regeln umgehend beherzigen.

Hat die Bundesregierung den demografischen Stein der Weisen gefunden – durch eine Explosion der kinderreichen Bedarfsgemeinschaften? Amerika befand sich vor 1997 in einer ganz ähnlichen Lage. Damals lebten 4,6 Prozent aller Amerikaner von Sozialhilfe. Auch hier galt, dass Unterschichtfrauen nur über neue Babys dem Arbeitsmarkt ausweichen konnten. Deshalb stellten die Welfare-Familien bei knapp fünf Prozent der Gesamtbevölkerung fast zehn Prozent des Nachwuchses. Dessen männlicher Teil nun verübte fast 50 Prozent der jugendlichen Gewaltkriminalität. Um dem Herr zu werden, verkündete Bill Clinton im Wahlkampf von 1992: „Wir machen Schluss mit der Sozialhilfe, wie wir sie kennen. Sozialhilfe darf niemals zu einem Lebensstil werden.“

Seit dem 1. Januar 1997 kann eine amerikanische Frau nicht mehr ein ganzes Leben lang auf ihre Mitbürger rechnen, sondern nur noch maximal fünf Jahre. Sozialpolitiker der linken Clinton-Administration traten damals empört zurück. Doch es geschah etwas Überraschendes: Die meisten schwarzen Mädchen, die bis dahin mit 13 Jahren schwanger wurden, um als vierzehnjährige Mutter von Uncle Sam zu leben, waren keineswegs begriffsstutzig. Umgehend verhüteten sie und suchten Arbeit. Heute liegt die Kinderzahl pro Afroamerikanerin mit 2,0 nur knapp über den 1,84 der Weißen. Im Jahre 2005 leben unter 298 Millionen US-Einwohnern nur noch 1,5 Prozent von Sozialhilfe – ein Rückgang um 67 Prozent in acht Jahren.

Nun wissen wir auch ohne Blick in die USA, dass 60 Prozent der Kinder unserer Migranten bestenfalls den Hauptschulabschluss schaffen. Auch bei der Gewalt wiederholen wir eins zu eins die amerikanischen Erfahrungen. So leben unter Bremerhavens Jungen 40 Prozent im Archipel. Die aber schaffen souveräne 90 Prozent der Kriminalität.

Amerika hat bei gut fünf Prozent Sozialhilfekindern Ende der 70er Jahre die Debatte um die Grundlagen seiner Zukunft begonnen. Deutschland steht 2007 bei 15 Prozent, die als finanziell heilbares Armutsproblem verniedlicht werden. Ob die Debatte wenigstens bei 20 Prozent an Ernst gewinnt? Daran darf nur glauben, wer übersieht, dass unsere beiden Mustergemeinden an Weser und Spree diese 20 Prozent längst überschritten haben und doch kaum jemanden wirklich nervös machen.

Der Autor ist Zivilisationsforscher. Er unterrichtet an der Universität Bremen.

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