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Meinung: Armut in Deutschland: Wer nicht fragt, bleibt dumm

Fast hatte man es schon vergessen, aber es ist ja wahr: Deutschland wird von Parteien regiert, die bis vor zweieinhalb Jahren noch ziemlich links waren. Manchmal ragen politische Findlinge aus der Anfangszeit von Rot-Grün ins Heute.

Fast hatte man es schon vergessen, aber es ist ja wahr: Deutschland wird von Parteien regiert, die bis vor zweieinhalb Jahren noch ziemlich links waren. Manchmal ragen politische Findlinge aus der Anfangszeit von Rot-Grün ins Heute. Sie erinnern uns an eine SPD, die 16 Jahre lang den Sozialabbau der Regierung Kohl beklagte. Um zu beweisen, wie sozial verheerend die bösschwarze CDU und die kaltgelbe FDP agiert hatten, wurde der erste regierungsamtliche Armutsbericht in Auftrag gegeben.

Nun liegt er also vor, der Findling aus dem Paläolitikum von Rot-Grün. Und fast wäre die Rechnung auch aufgegangen. Denn gemessen wurde nur die Armut bis 1998, bis zum Regierungswechsel. Bis dahin stand es um die soziale Lage recht schlecht, so wissen die Wissenschaftler. Erst seither, so behaupten sie wortreich, geht es mächtig bergauf, mit dem Sozialen in Deutschland.

Nur schade, dass man weder das eine noch das andere beweisen kann. Armut lässt sich wissenschaftlich nicht genau bestimmen: Nimmt man eine weite Definition, dann ist jeder Neunte arm, was jedem normal durch die Straßen laufenden Menschen absurd vorkommt. Definiert man sie zu eng, dann wird die Zahl so klein, dass man leicht auf die Idee kommen kann: Weniger geht nur in Disneyland. Der Bericht sagt darum nur, es gebe zwischen vier und 14 Millionen Arme. Na das hätten wir zur Not auch ohne Bericht von Hand geschätzt.

Aus ihrem Dilemma hätte die Wissenschaftler einzig eine Politik befreien können, die entscheidet, was sie für Armut hält. Doch hätten konkrete Ergebnisse womöglich zu konkreten Erfordernissen geführt, die ungelegen kämen. Zumal Rot-Grün doch schon so viel gegen die Armut getan hat, nicht wahr. Über eines erfahren wir auf den knapp 300 Seiten übrigens noch weniger als über die Armut: über den Reichtum. Da ist nicht nur die Definition umstritten, da sind auch die Daten so dünn wie Parmaschinken an Melone. So gesehen könnte man den Bericht ohne weitere Umstände in das Ablasskästchen der Bundesregierung werfen. Wenn wir nicht sicher wüssten, dass einem ersten Bericht auch immer ein zweiter folgt. Da könnte man dann vielleicht das ein oder andere anders machen. Denn Armut, die gibt es in diesem Land ja wirklich.

Zunächst einmal sollte die Regierung beim nächsten Bericht eine möglichst konservative Definition vorgeben, damit nicht zehn Scheinarme den Blick auf den einen wirklich Armen verdecken. Sodann wäre es lohnend zu untersuchen, wie sich die Struktur der Schwachen verändert, wer also noch als sozial bedürftig gilt und es schon nicht mehr ist, wer schon bedürftig ist, aber noch nicht gesehen wird. Schließlich wären Untersuchungen darüber interessant, inwieweit Armut durch Sozialleistungen behoben oder forciert wird. Nicht zuletzt wäre eine Mentalitäten-Analyse von großem Nutzen: Wird Armut in Deutschland mehr als Schicksal oder mehr als Herausforderung wahrgenommen?

Nach diesem ersten Bericht kann nur der etwas fordern, dem sein Vorurteil auch schon ohne Bericht sagte, dass die Abstand zwischen Arm und Reich ständig wächst. DGB und Kirchen forderten sogleich mehr Geld für Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose und Kinder. Doch das ist ein monoton und faul gewordenes Herumfordern, weil es alle in einen Topf wirft. Wer in einem Land Armut bekämpfen will, das aus allen Poren Wohlstand schwitzt, das sehr egalitär und zudem marktwirtschaftlich organisiert ist, muss genau hinsehen. Dafür braucht man Wissenschaftler, die sich das zutrauen - und eine Politik, die nicht zu feige ist, präzise Fragen zu stellen.

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