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Ganz schön groß, ganz schön stark. Jedes für sich haben die europäischen Länder China nichts entgegen zu setzen. Hier legen Arbeiter letzte Hand an eine überdimensionale Blumendekoration in Peking. Dort findet voraussichtlich im Oktober der 18. Nationalkongress der Kommunistischen Partei statt.

© AFP

Asien: Allein hat Deutschland in China nichts zu melden

Der Aufstieg Asiens wird oft gleichgesetzt mit einem Abstieg des „Westens“. Das ist Unsinn. Dennoch erfordert die neue Stärke des Kontinents ein Umdenken in der Außenpolitik.

Es dauert lange, bis sich grundlegende, ja historische Veränderungen im allgemeinen Bewusstsein niederschlagen und die öffentliche Debatte prägen. Es dauert noch länger, bis wir das allmähliche Erkennen in Handeln umsetzen. So ist es mit dem demografischen Wandel, der, vor mehr als dreißig Jahren bereits beschrieben und prognostiziert, bis heute keine nachhaltigen Antworten gefunden hat. So ist es mit der wachsenden Beanspruchung unserer natürlichen Ressourcen, wo allenfalls Teilantworten zustande kommen, die dazu noch ideologisch und egoistisch aufgeladen sind.

Der Aufbruch Asiens, das „asiatische Jahrhundert“ ist eine derartig grundlegende Veränderung, vielleicht die wichtigste der nächsten Jahrzehnte. Die Debatte über Asien aber leidet an schwerwiegenden Mängeln. Sie ist zu sehr durch Mythen und Vorurteile geprägt. Sie konzentriert sich zu sehr auf einzelne Länder wie China oder auf einzelne Aspekte wie die Bevölkerungsentwicklung. Der am schwersten wiegende Mangel: Eine wirkliche Debatte über Asien findet nicht statt. Wenn sich das nicht ändert, wenn wir Asien nicht endlich umfassend ins Blickfeld nehmen, werden wir in Deutschland, ja wir in Europa insgesamt an den Rand des Weltgeschehens gedrängt und der historischen Bedeutungslosigkeit überantwortet werden. Höchste Zeit also, sich der asiatischen Herausforderung zu stellen und unsere eigene, die europäische Antwort zu finden.

Der Aufbruch Asiens ist beeindruckend. Um die Mitte unseres Jahrhunderts werden mehr als 60 von 100 Menschen auf der Erde in Asien leben, aber nur noch sieben von 100 in Europa und vier von 100 in Nordamerika. Die Wirtschaftskraft der asiatischen Nationen wird zunehmen, keineswegs nur in China, Singapur oder Korea. Ein sprunghaft ansteigender innerasiatischer Handel wird diese ökonomische Dynamik ebenso befördern wie die resolute Nutzung westlicher Technologien. Ein beispielhafter Bildungswillen (in allen PISA-Untersuchungen werden wir von mehreren asiatischen Konkurrenten abgehängt), eine hohe Leistungsbereitschaft quer durch alle Schichten der Bevölkerung sowie das Entstehen bürgerlicher Mittelschichten bilden – bei allen zu erwartenden Rückschlägen – eine solide Grundlage für diesen Marsch in die Zukunft.

Allerdings: Dieser Weg wird holprig sein. Der Kontinent ist durch vielfache innere und zwischenstaatliche Spannungen gekennzeichnet. Sie führten und führen in einigen asiatischen Ländern zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Pakistan, Sri Lanka, Thailand, Indonesien und andere sind hier zu nennen. Sie haben bis in die jüngere Vergangenheit immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen produziert. Und da, ganz im Unterschied zum „Westen“, nicht einmal Ansätze einer verlässlichen Sicherheitsarchitektur sichtbar werden, können selbst Scharmützel wie die um winzige Inselgruppen im asiatischen Seegebiet Auslöser für eine gefährliche Konfrontation werden.

Zudem mehren sich dort die Anzeichen für ein Wettrüsten bis in die Dimensionen der Massenvernichtungswaffen und der Cyber-Kriegsführung hinein. Die angestrebte militärische Stärke geht über die verständlichen Bedürfnisse der Landesverteidigung und des Schutzes der Seewege vor Terrorismus, Piraterie, Drogen- und Menschenhandel weit hinaus. Es darf auch nicht übersehen werden, dass sechs der insgesamt neun Atomwaffenstaaten auf der Welt ganz oder teilweise in Asien beheimatet sind. Zwei von ihnen, nämlich Pakistan und Nordkorea, können als „failed states“ bezeichnet werden.

Wir haben es also in Asien mit bestenfalls labilen und sehr komplizierten Gleichgewichten zu tun. Eine stabilere Balance insbesondere zwischen den größeren Mächten China, Indien, Japan und Russland steht noch aus. Den Schlüssel für diese Balance hält nach meiner Überzeugung China in den Händen. Peking muss sich daran gewöhnen, multilateral zu agieren. Und die Führung des Landes muss sich endgültig mit der Präsenz der Vereinigten Staaten in Asien abfinden. Diese Präsenz ist Ausdruck elementarer Interessen eines Landes, das nicht nur eine Atlantik-, sondern auch eine Pazifikküste hat. Sie liegt auch im erklärten Interesse einer ganzen Reihe asiatischer Staaten, nicht nur Japans.

Leider steht zu befürchten, dass sich auch nach dem bevorstehenden Wechsel an der Spitze der Kommunistischen Partei Chinas diese Einsichten zunächst nicht durchsetzen werden.

Dies sind nur sehr summarische Hinweise auf einige wichtige Entwicklungen in Asien. Die Frage an uns ist, wie wir uns darauf einstellen. An dieser Stelle kommen Mythen und Vorurteile ins Spiel. Drei von ihnen sind besonders häufig zu finden:

Zunächst wird oftmals der Aufstieg „des Ostens“ mit dem Niedergang „des Westens“ gleichgesetzt. Diese These ist unsinnig, und einige ihrer Vertreter sollten sich wieder einmal mit den Grundrechenarten vertraut machen. Hier werden ganz einfach globale mit Pro-Kopf-Größen oder absolute mit relativen Gewichtsverschiebungen verwechselt.

Sodann wird die Existenz einer spezifisch asiatischen Werteordnung behauptet, die in Konkurrenz zu der unseren stehe. Auch diese These hält der Überprüfung nicht stand. Die ungeheure Vielfalt der Traditionen, Kulturen und Gesellschaften hat nie eine asiatische Werteordnung herausgebildet, nicht einmal in China. In Wirklichkeit wird der Wettbewerb auch im „asiatischen Jahrhundert“ mit den Waffen des Westens geführt – nicht nur im technologischen oder ökonomischen Bereich.

Schließlich legt man uns unter Hinweis auf eben diese nicht existierende Werteordnung nahe, in Sachen Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie unsere Messlatte zu Hause zu lassen, wenn wir nach Asien reisen. Neben vielen anderen Argumenten gilt der grundlegende Einwand, dass wir damit die Hoffnungen, Mühen und Erfolge von vielen Millionen Asiaten verraten würden.

Nicht nur die Menschen in Indien, Japan oder Südkorea teilen unsere Auffassung von einer menschenwürdigen Zukunft und haben absolut keine Lust, unter einem autoritären Regime zu leben. Bei uns sollte das allerdings zu ruhiger Zuversicht führen und nicht zu dem peinlichen Drang, andere permanent belehren zu wollen.

Das gilt gerade auch für eine deutsche Außenpolitik, die zu häufig Prinzipien und nicht Interessen projiziert. Ebenso wichtig: Deutschland muss begreifen, dass eine nationale „Asienstrategie“ nicht sehr weit führt, selbst wenn sie formuliert sein würde.

Gewiss, deutsche Bundeskanzlerinnen und Bundeskanzler sind in Asien gern gesehene und geachtete Gäste. Für das feierliche und publikumswirksame Unterzeichnen von vorher längst ausgehandelten Unternehmensverträgen oder auch zwischenstaatlichen Abkommen reicht es allemal. Eine gut gemachte auswärtige Kulturpolitik kann ebenso positive Zeichen setzen wie ein verstärkter wissenschaftlicher Austausch. Viel mehr aber können wir national nicht erreichen. Viel mehr sollte Berlin aber auch nicht anstreben. Es gilt nämlich immer noch der Satz, dass man zum Erreichen seiner Ziele auch über die notwendigen Mittel verfügen muss.

Der weltweite Wettstreit im „asiatischen Jahrhundert“ wird sich demgegenüber eher auf kontinentaler, nicht auf nationaler Ebene abspielen. Es ist deshalb höchste Zeit, dass wir uns in der Europäischen Union auf die Notwendigkeit besinnen, eine eigenständige und vor allem gemeinsame Asienpolitik zu entwickeln.

Diese Politik darf sich nicht nur auf die Felder der Handels- und Außenwirtschaftspolitik beschränken, so wichtig diese auch in Zukunft bleiben werden, gerade im Interesse unserer Unternehmen. Sie muss wesentliche Elemente der Sicherheitspolitik ins Blickfeld nehmen. Dazu gehören unter anderem verlässliche multilaterale Ansätze für die Sicherung der internationalen Verkehrswege sowie für den Schutz vor Terrorismus, Drogen- und Menschenhandel.

Diese Politik muss Asien in allen internationalen Organisationen den ihm gebührenden Platz einräumen, bis hin zum Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Sie muss andererseits darauf bestehen, dass die asiatischen Staaten einer ihrer Bedeutung entsprechende Verantwortung für das Durchsetzen und Fortentwickeln des Völkerrechts übernehmen

Diese Politik muss im „Westen“ verankert bleiben. Das bedeutet, neue Ansätze einer Arbeitsteilung mit den USA zu entwickeln, die uns Europäern eine größere Verantwortung vor unserer eigenen Haustür, insbesondere im Mittelmeerraum, zuweist.

Diese Politik muss eine gemeinsame Position in all den drängenden Fragen der Nutzung natürlicher Ressourcen, des Umweltschutzes und des Klimawandels entwickeln und durchhalten.

Es hat sich in den letzten Jahren wiederholt gezeigt, wie begrenzt die Möglichkeiten einer nationalen deutschen Außenpolitik und insbesondere Asienpolitik sind. Das hat mit den jeweils handelnden Personen oder jeweils regierenden Koalitionen kaum etwas zu tun. Im Konzert der Weltmächte und Weltregionen bringen wir einfach die notwendige kritische Masse nicht auf. Der „asiatischen Herausforderung“ können wir allein nur defensiv begegnen. Und das bedeutet permanent Gewichtsverlust, ab und zu auch Gesichtsverlust. Als größte Wirtschaftsmacht haben wir diese kritische Masse aber in Europa. Dort sollten wir sie zur Geltung bringen. Berlin sollte Motor einer neuen europäischen Asienpolitik werden. Niemand sonst kann diese Rolle übernehmen. Und ein Wegducken muss in weiter zunehmender Bedeutungslosigkeit enden. Und die ist bereits jetzt erschreckend.

Allerdings: Auch eine europäische Antwort auf die „asiatische Herausforderung“ wird auf das Verständnis der Bürger angewiesen bleiben. Das aber lässt sich nur wecken, wenn Größe und Eigenart dieser Herausforderung verstanden und in die interessierte Öffentlichkeit getragen werden. Hoffentlich kommt dieser Prozess langsam in Gang!

Manfred Lahnstein

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