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Atomausstieg: Jeder braucht Zugang zur Steckdose

Um den Atomausstieg kümmert sich nun eine Ethikkommission: Die sollte es sich nicht zu leicht machen. Großtechnische Anlagen sind so "sicher" wie Tomaten "gesund" sind.

Deutschland soll 2021 aus der Atomkraft aussteigen. Das wird, ersten Gerüchten zufolge, die Empfehlung der Ethikkommission zur Atomenergie sein. Dabei geht es bei der Arbeit der Kommission, die ihren Abschlussbericht in wenigen Tagen vorlegen wird, gar nicht darum, ein Datum für den Atomausstieg festzulegen. Die Diskussion um die Optionen künftiger Energieversorgung ist in Deutschland besonders stark von moralischen Überzeugungen bestimmt. Das zeigen etwa die Aufrufe zur Verantwortung gegenüber künftigen Generationen, gegenüber Bewohnern von Dritte-Welt-Staaten, das zeigen die Wohlstandsverzichtsappelle. Da diese Appelle erhebliches Konfliktpotenzial enthalten, müssen sie Gegenstand ethischer Kritik sein. Nur deshalb tritt die Ethik, in Form einer Ethikkommission, beim Thema Energie überhaupt auf den Plan.

Die Ethik ist ein Geschäft rationaler Analyse und Kritik anhand von Kriterien, die die Verallgemeinerbarkeit von normativen Urteilen sichern sollen. Die Ethik erfindet keine Sitten und tritt erst recht nicht im Namen solcher auf. Ethische Kritik wird anhand von Kriterien durchgeführt, das heißt jede ethische Untersuchung muss die Regeln benennen und rechtfertigen, nach denen sie Handlungsoptionen beurteilt. Ein solches Kriterium scheint in der Tat zur Verfügung zu stehen, nämlich das der Nachhaltigkeit. Viele Ethiker sind jedoch mit diesem Kriterium unzufrieden, nicht weil sie es für falsch halten, sondern weil es notorisch unklar ist und daher als Kriterium nur verwendbar ist, wenn man Hilfskriterien heranzieht, die diesen Begriff konkretisieren:

Manche wird es wundern, dass das Kriterium der Wirtschaftlichkeit aus der Perspektive der Ethik an die erste Stelle gesetzt wird. Diese Verwunderung dürfte mit der Dominanz asketisch-christlicher Moralvorstellungen in unserer Gesellschaft zusammenhängen. Mit Dominanz ist allerdings nicht gemeint, dass diese Vorstellungen tatsächlich das Denken und Handeln der Akteure bestimmen. Vielmehr scheint es so, dass viele meinen, verbal dafür eintreten zu müssen, um als moralische Persönlichkeit zu gelten.

Der Zugang zur Steckdose bedeutet Licht, Wärme und Fortbewegung, zunehmend auch Zugang zu Bildung, gesellschaftlichem Leben und politischer Partizipation. Strom ist kein Luxusgut, sondern Teil der Grundversorgung; der Strompreis hat heute die soziale Funktion wie früher Brotpreis. Steigerungen des Brotpreises haben schon Revolutionen ausgelöst. Die Stromwirtschaft ist allerdings unter dem Gesichtspunkt ihres Eigennutzes keineswegs darauf angewiesen, die bisher zur Verfügung gestellten Mengen an Strom zu verkaufen. Man kann auch mit wenigen teuren Wirtschaftgütern Geld verdienen, sonst gäbe es keine Goldschmiede. Ein sozialverträglicher Strompreis hat also weniger mit den Interessen der Stromwirtschaft als mit politischer Inklusion und Stabilität zu tun. Angesichts dieser Feststellungen lassen manche Postulate, die sich aus Umwelt- und Klimaschutz oder Sicherheit motivieren, allzu stark Lebensformkritik und Wohlstandsüberdruss durchschimmern. Manche Kritik an Energieoptionen ist kaum verhüllt (immer noch) politisch-ökonomische Systemkritik.

Grundsätzlich hat jeder Angehörige künftiger Generationen Anspruch darauf, mit seinen Bedürfnissen und Interessen im moralischen Diskurs berücksichtigt zu werden. Insoweit wird das Kriterium der Langzeitverpflichtung breite Akzeptanz finden. Wegen der unsicheren Prognosemöglichkeiten wird es jedoch sehr schnell trivial, wenn man sich über die Lebensbedingungen ferner Generationen Gedanken macht. Hinsichtlich der Energiefrage gehört zur Langzeitverantwortung auch die Verpflichtung, Forschungsinvestitionen zu tätigen, die in der Zukunft interessante Optionen eröffnen. Energieforschung ist neben Ressourcenökonomie der wichtigste Komplex von Handlungsoptionen, durch die die jetzt Lebenden die Zukünftigen für den irreversiblen Verbrauch von Rohstoffen entschädigen sollten. Solange die Szenarien einer zukünftigen Energieversorgung nicht klar entscheidbar sind, gehört dazu auch, vorhandene Optionen (zum Beispiel Kernenergie) und noch nicht realisierte Konzepte (zum Beispiel Fusion, Solarkraftwerk) nicht voreilig aufzugeben.

In diesem Zusammenhang ist auch schwer vorstellbar, wie künftige Generationen ohne Kohlenstoffchemie auskommen könnten; nicht nur Autoreifen und Plastikeimer, auch Kopfschmerztabletten und fortschrittliche Werkstoffe sind nur durch intelligente Nutzung von fossilen Rohstoffen erzeugbar. Es ist also ein Gebot der Verantwortung für künftige Generationen, den Tresor fossiler Lagerstätten zu schonen. Dagegen verstößt es, fossile Ressourcen im großen Maßstab für die Stromerzeugung zu verbrennen. Uran ist demgegenüber für nichts anderes als für die Stromerzeugung brauchbar (von einem kleinen Bedarf für die Kolorierung von Kirchenfensterglas abgesehen). Nicht nur aus der Perspektive der Ressourcenökonomie, sondern auch der der Langzeitverantwortung hat die Nutzung von Uran viel für sich, soweit man die Versorgungsicherheit und preisliche Erreichbarkeit von Strom nicht durch „erneuerbare“ Energien sicherstellen kann.

Hinsichtlich der Umweltverträglichkeit wird die öffentliche Diskussion über die einfache Frage, welche Umwelt wir schützen wollen und welchen Umweltschutz sich die Menschheit leisten kann, durch einen romantischen Naturalismus bestimmt. Dies schließt das Klimaproblem ein. Eine kritische Reflexion auf diese Frage zeigt, dass man hier (wie auch sonst) im Maximum nicht automatisch das Optimum sehen kann. Auch wenn viele Formen von Naturausbeutung durchaus als verwerflich plausibel gemacht werden können, bedeutet das nicht, dass der hungrige und energiebedürftige Mensch die Natur untangiert lassen kann. Auch der (in seinem Ausmaß immer noch schwer bestimmbare) anthropogene Anteil kann nicht einfach gegen null gefahren werden. Vielmehr sind Strategien der Zurückführung gegen solche der Anpassung, der Vorsorge gegenüber der Nachsorge, des Ausgleichs zwischen Gewinnern und Verlieren usw. auf dem Hintergrund des jeweils besten Wissens rational abzuwägen. Zu den derzeit fast völlig verdrängten Aspekten gehört der, dass der Umweltschutz, den die Menschheit sich leisten kann, in bedeutendem Umfang von der Zahl der Menschen abhängt, die als Naturverbraucher ihre Lebensrechte in Anspruch nehmen. Die moralischen Verpflichtungen gegenüber den Lebenden sind unbestreitbar. Es gibt jedoch kein Recht der Ungezeugten auf Existenz. Dabei ist zu bedenken, dass für viele wichtige Umweltgifte Mengenschwellen bestehen, bis zu denen das Erdsystem auf natürliche Weise zurechtkäme.

In komplexen Gesellschaften ist die Menge der Nutznießer technischer Innovationen meist nicht mit der Menge der Schadensträger identisch. Gerechte Zustände im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit können daher nicht durch Gleichverteilung von Risiken und Chancen herbeigeführt werden. Vielmehr besteht Gerechtigkeit meistens in gerechtfertigter Ungleichheit. Zu den Gerechtigkeitsproblemen in globaler Perspektive gehört auch, dass sich derzeit die reichen Industriestaaten die sicherheitstechnisch weniger aufwendigen fossilen Energieträger leisten, während die Schwellenländer den aufgrund der Nachfrage der Industrieländer hohen Weltmarktpreis für fossile Energieträger nicht entrichten können und sich daher auf die sicherheitstechnisch eher anspruchsvollen Technologien (wie die Kernenergie) konzentrieren.

Die größte Verwirrung wird derzeit bezüglich des Kriteriums der Sicherheit erzeugt. Die Frage, ob eine großtechnische Anlage „sicher“ ist, ist falsch gestellt, ähnlich der Frage, ob Tomaten „gesund“ sind. Anlagen werden auf eine bestimmte Sicherheit hin ausgelegt, und das heißt, dass eine Auslegung sicherer oder weniger sicher ist als eine andere. Eine Anlage, die ein Kühlsystem aufweist, ist weniger sicher als eine Anlage, die zwei autonome Kühlsysteme hat usw. Unendliche viele autonome Kühlsysteme kann es aber nicht geben. Die politische Rhetorik sollte also unbedingt auf die komparative Verwendung von „sicher“ umschalten. Sonst suggeriert die Rede von Sicherheit dem Bürger, eine großtechnische Installation sei nur „sicher“, wenn störfallbedingte Schäden „ausgeschlossen“ werden können. Ausschließen kann niemand etwas, und keineswegs haben wir es bei einem GAU mit etwas „Undenkbarem“ zu tun. Vielmehr gehört es zu den Gelingensbedingungen einer technisch-wissenschaftlichen Kultur, auf deren Nutzen niemand ernsthaft verzichten möchte, an alles zu denken und die Großtechniken „sicherer“ zu machen. Die Großtechnik „individueller Straßenverkehr“ zeitigt in Deutschland zurzeit circa 4000 Tote pro Jahr. Nur wenige nehmen das als Argument, den Betrieb des Individualverkehrs für inakzeptabel zu erklären, aber sie erwarten zu Recht, dass Straßenbauer, Autokonstrukteure usw. daran arbeiten, die Zahl der Toten stetig zu verkleinern, was seit den 50er-Jahren mit weit über 20.000 Toten pro Jahr in eindrucksvoller Weise gelungen ist: Individueller Straßenverkehr ist heute „sicherer“ als früher. Diese Analyse verrät weder menschenverachtenden Zynismus noch kaltherzigen Utilitarismus. Technische Innovation leistet einen entscheidenden Beitrag zur Verbesserung von „Sicherheit“; lediglich bei der Kernenergie wollen viele Menschen das nicht einsehen.

In der Tat: Wir haben in Deutschland alte Anlagen. Alte Anlage sind trotz umsichtigen Betriebs und aufwendiger Nachrüstung immer störanfälliger als neue. Die Ursache ist aber nicht ein Versäumnis der Ingenieure oder der gewinngetriebenen Stromindustrie, sondern der Umstand, dass wir in Deutschland seit Jahrzehnten Parteien wählen, die sich (im Unterschied zu vielen Nationen um uns herum und weltweit) kategorisch dem Gedanken von Neubauten verweigern. Damit hat unsere Gesellschaft auf die Entwicklung und Installation „sicherer“ Anlagen (vor allem auch solcher mit tendenziell inhärenter Sicherheit) verzichtet; es ist scheinheilig, darüber jetzt Beschwerde zu führen. Bezieht man die genannten Kriterien unter globaler Perspektive auf vorhandene und mögliche Energieoptionen (fossile Energieträger, Kernenergie, Fusionsenergie, erneuerbare Energieformen, Solarkraftwerke im Weltraum, Steigerung der Energieeffizienz), dann kommt man zu keinem eindeutigen Ergebnis. Es gibt keine Option, die bezüglich aller Kriterien optimal ist. Das bedeutet, dass die kritische Beurteilung der Energieoptionen wesentlich davon abhängt, wie die Kriterien untereinander zu gewichten sind. Das wird in dieser Allgemeinheit wenige überraschen, obwohl in der öffentlichen Diskussion gelegentlich der Eindruck erweckt wird, man habe den optimalen Weg gefunden, nämlich den Ausbau der erneuerbaren Energie kombiniert mit der Steigerung der Energieeffizienz. Aber auch diese Optionenkonstellation hat ihre Probleme, die vor allem im Bereich der Wirtschaftlichkeit, der Verteilungsgerechtigkeit (wegen hoher Energiekosten) und der Langzeitverantwortung (wegen unterlassener Forschungsinvestitionen) liegen.

Aus ethischer Sicht befindet sich die Menschheit in der Situation, dass heute mit erheblichen Folgen gehandelt werden muss, ohne dass sie über über das Wissen verfügt, das man bräuchte, um gut fundierte Entscheidungen zu treffen. Deshalb ist vor allem die Frage zu diskutieren, wie man die Unsicherheit des Urteils und die daraus resultierende wünschenswerte Reversibilität der Entscheidungen mit dem Erfordernis einer verlässlichen langfristigen Technologiepolitik vermitteln kann. Die aktuelle öffentliche Energiediskussion erweckt allzu oft den Eindruck, die einen Akteure wähnten die jeweils anderen in einem klaren Irrtum befangen oder sogar (wissende) Schurken. Tatsächlich leben wir unter Bedingungen der provisorischen Moral, und wir sind weit davon entfernt, gelernt zu haben, wie man mit diesen Problemen konfliktbewältigend umgeht. Für die ethischen Probleme der Debatte um die globale Energieversorgung erwachsen daraus vor allem zwei Postulate: Es bedarf einer Verbesserung des Wissens und einer Verbesserung der Kategorien und Verfahren der ethischen Reflexion. Grundsätzlich ist das Problem bei der Ethik richtig adressiert. Die ethischen Erwägungen verlangen eine große Umsicht der Urteilsbildung angesichts der Überkomplexität der Problemlage. Die Bürger können nur hoffen, dass die Mitglieder der von der Kanzlerin eingesetzten Ethikkommission über die dafür notwendige ethische Expertise und die moralische Urteilskraft verfügen, der Regierung guten Rat zu erteilen.

Der Autor ist Philosoph und lehrt an der Universität Duisburg-Essen.

Carl Friedrich Gethmann

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