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Meinung: Auch die Trauer hat ihre Zeit

Gedenktage behalten ihren Sinn, selbst wenn sie wenige betreffen

Auf mehr als 200 Friedhöfen sind alleine in Berlin mehr als 150000 Kriegsopfer bestattet. Dennoch geht die Zahl der Menschen, die am Volkstrauertag die Gräber der Gefallenen und Ermordeten, der Opfer der Bombennächte und der Vertreibung besuchen, stetig zurück. Das ist nicht nur in Berlin so. Verblasst der Volkstrauertag zum blanken Ritual – ein überlebter Feiertag, wie es in der alten Bundesrepublik lange der 17.Juni gewesen ist?

Der 50. Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR, der vor wenigen Monaten begangen wurde, hat eindrucksvoll bewiesen, wie schnell etwas der Dunkelheit des kollektiven Desinteresses entrissen und wieder zur hell erleuchteten Gegenwart werden kann – wenn die Zeit dafür reif ist. Nach der Wiedervereinigung wurde nicht nur der Zugang zu Zeitzeugen möglich, die vorher schweigen mussten. Auch das Bedürfnis nach Besinnung auf die Nation bewegende und einigende Erinnerungsdaten ist seitdem stark gewachsen.

Dass der Volkstrauertag heute eher zu den verborgenen Gedenktagen gehört, trotz der Feierstunde im Bundestag und trotz der eindrucksvollen Kranzniederlegung auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee, ist kein negatives Zeichen, etwa im Sinne der von Alexander und Margarethe Mitscherlich schon 1967 beklagten Unfähigkeit zu trauern. Nach fast sechs Jahrzehnten des Friedens wird die Zahl der Menschen immer geringer, die direkte Angehörige durch Krieg oder Kriegsfolgen verloren haben. Darüber kann niemand unglücklich sein. Und auf das verbohrte Totengedenken von Rechtsextremisten, wie jetzt wieder im brandenburgischen Halbe, können die Deutschen verzichten.

Halbe, der Ort einer der letzten, furchtbaren und völlig sinnlosen Schlachten des Zweiten Weltkrieges, steht jedoch, stellvertretend, für viele andere Namen. In Halbe, aber auch nahe vieler Städte in Flandern, liegen noch heute die Gebeine zehntausender Gefallener vieler Nationen im Boden, da, wo die Soldaten im Ersten oder Zweiten Weltkrieg starben. Dass diese sterblichen Überreste bis heute gefunden und beigesetzt werden, zeigt, dass der Volkstrauertag wohl nie aufhören wird, ein stiller Gedenktag zu sein – glücklicherweise in einer Zeit, in der diese europäischen Konflikte von einst wirklich nur noch Geschichte sind.

Gerd Appenzeller

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