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Malte Lehming

© Kai-Uwe Heinrich

Auf den Punkt: Der Muff von 40 Jahren

Malte Lehming über Kurras und den Geist der Linken

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg kommt ein Jude nach Deutschland. Mit einem großen Koffer steht er auf einem Bahnhof, muss aber dringend auf die Toilette. Weil er den großen Koffer nicht mitschleppen will, wendet er sich an seinen Nebenmann: "Entschuldigen Sie, sind sie ein Antisemit?" Der reagiert empört. Natürlich sei er das nicht, er habe nichts gegen Juden und nie etwas gegen sie gehabt. Der Jude fragt den nächsten und übernächsten. Jeder reagiert gleich. Schließlich gerät er an ein älteres Ehepaar. Wieder fragt er: "Entschuldigen Sie, sind Sie Antisemit?" - "Na klar, die Juden haben zu viel Macht, man muss sie alle rausschmeißen, und unseren Herrn Jesu haben sie auch ermordet." Darauf der Jude: "Sie sind die ersten ehrlichen Menschen, die ich in Deutschland treffe, könnten Sie vielleicht einen Moment lang auf meinen Koffer aufpassen?"

Zu seiner Vergangenheit steht in einem Land, das zwei Diktaturen erlebt, erlitten und erduldet hat, kaum einer gern. Denn die Grunderfahrung vieler Deutscher heißt: Überzeugungen und Ideale sind flüchtig. Was gestern gut war, ist heute falsch und morgen töricht. Entsprechend dichtete die Distel einst: "Was uns nicht passt, das vergessen wir auch, und was wir vergessen, das war nicht. Denn das ist in Deutschland ein alter Brauch, und Bräuche vergessen wir gar nicht."

Muss die Geschichte umgeschrieben werden, weil der Polizist Karl-Heinz Kurras, der im Juni 1967 Benno Ohnesorg erschoss, SED-Mitglied und Stasi-IM war? Die Frage wird kaum gestellt, da wird sie bereits wütend verneint. So wie es in Deutschland nach 1945 keine Antisemiten mehr gab, gibt es eben heute keine deutschen Linken mehr, die etwas mit Sozialismus, Marx, Arbeiterklasse, Revolution und DDR zu tun gehabt haben wollen.

(Zwischenruf des empörten Lesers: "Immer diese idiotischen Vergleiche! Das belegt doch nur, dass der Autor Godwins Gesetz befolgt, das da sagt: Im Verlaufe langer Diskussionen bringt irgendwann jemand einen Nazivergleich oder einen Vergleich mit Hitler. Unverschämtheit!" Ja, ja, aber nicht der Autor hat damit angefangen, sondern die deutsche Linke, die einen Großteil ihrer eigenen Identität aus ihrem nachträglichen Kampf gegen Hitler bezog. Also kusch, lieber empörter Leser.)

Das ist schon eine besonders feine Pointe: Ausgerechnet jene Linke, die es sich zugute hält, die Aufarbeitung der Vergangenheit gewissermaßen kulturell verankert zu haben, verschließt Augen und Ohren vor der eigenen Vergangenheit. So wie die Eltern nicht vom Krieg sprechen wollten, sprechen die Töchter und Söhne bis heute nicht von ihrer Verstrickung in eigene Irrtümer.

Was begründete denn die einseitige Parteinahme für die Palästinenser nach 1967? Die durch die Linke fast nie verurteilte, aber von Linksterroristen begangene Selektion in Entebbe? Die Romantisierung aller möglichen "Befreiungsbewegungen" (Waffen sammeln für El Salvador)? Wer betrieb mit Leidenschaft die neuen Unterrichtsinhalte "kritische Medienkunde" (dort brachten einem jene Junglehrer, die den kurzen Marsch durch die Institutionen angetreten waren, bei, dass der Begriff "Baader-Meinhof-Bande" pejorativ sei, weswegen man von "Baader-Meinhof-Gruppe" sprechen möge) oder "Systemvergleich BRD-DDR" (meist ging es patt aus, manchmal gewann die DDR wegen der Vollbeschäftigung) oder die Einheit über den "Militärisch-Industriellen Komplex"? Und wann hat sich die deutsche Linke je über die Teilung oder die Mauertoten beschwert? All das ist tausendfach erforscht und belegt, bloß an der Selbstgerechtigkeit der 68er ändert es nichts. Und weil ihr trotziges "Es war nicht alles schlecht damals" deutschgeschichtlich durchaus bekannt klingt, ist es nicht einmal originell.

Gegen den Muff von tausend Jahren gingen sie auf die Straßen, jetzt riechen sie den eigenen Muff der letzten 40 Jahre nicht. Ihre Vergötzung der "Selbstbestimmung", die im Massenselbstmord von Jonestown/Guyana gipfelte, ihre Glorifizierung von Kameradschaftsehe und Patchwork-Familien, ihre dauerspirituelle Sinnsuche, die sie nach Poona und in die Astrologie trieb. Und um nicht ganz verrostet zu wirken, kämpfen sie bis heute entschlossen weiter. Nur in den Zielen sind sie bescheidener geworden. Statt über eine klassenlose Gesellschaft freuen sie sich schon über eine, in der Heidi Klum und Dieter Bohlen verboten sind und das Copyright nicht durchs Internet entwertet wird.

Muss die Geschichte nach Kurras umgeschrieben werden? Nein. Denn Neues über die so genannten 68er lehrt der Fall nicht. Schade ist nur, dass man fast keinen deutschen Linken findet, den man mal bitten könnte, auf den Koffer aufzupassen.

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