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Ulrich Zawatka-Gerlach

© Mike Wolff

Auf den Punkt: Mehr direkte Demokratie wagen

Ulrich Zawatka-Gerlach über die neuen Rechte der Berliner

Das Berliner Verfassungsgericht hat am Dienstag revolutionäre Urteile gefällt. Die Rechte der Bürger, in den öffentlichen Haushalt und in die Gesetzgebung des Landes einzugreifen, wurden enorm gestärkt. Zum einen entschieden die Richter, dass sich Volksbegehren in Berlin auf die Staatsfinanzen fast unbeschränkt auswirken dürfen. Der Eingriff in den laufenden Haushaltsplan bleibt zwar verboten, aber interessierte Bürger können mit Hilfe der direkten Demokratie über künftige Landeshaushalte munter mitbestimmen, auch wenn das viel, viel Geld kostet. Beim Volksbegehren zur Verbesserung der Kita-Betreuung, das Anlass des Rechtsstreits zwischen Senat und Bürgerinitiative war, müsste die rot-rote Koalition ab 2010 weit über 100 Millionen Euro locker machen, um die weitreichenden Forderungen zu erfüllen. SPD und Linke werden aber voraussichtlich die Waffen strecken müssen, weil sie das Geld nicht drucken können. Etwa 50 Millionen Euro für die Aufstockung des Kitapersonals werden im Doppeletat 2010/11 zur Verfügung stehen, mehr ist wohl nicht drin.

Rot-Rot wird also in ein Volksbegehren getrieben, das die Koalition in jedem Fall vermeiden wollte. Man sieht schon die Plakate des Senats vor sich: Wir sind gegen eine Verbesserung der Betreuungssituation in den Berliner Kindertagesstätten. Nach dieser Kampagne und einem verlorenen Volksentscheid können es sich SPD und Linke eigentlich sparen, zur Abgeordnetenhauswahl 2011 noch anzutreten. Die Alternative dazu wäre, das öffentliche Geld einfach raus zu hauen. Das brächte Punkte – und ein schönes, großes Loch im Landeshaushalt. Zu diesen neuen Defiziten müssten dann aber jene Bürger stehen, die mit ihrer Stimme beim Volksentscheid den Job des Finanzsenators übernommen haben. Demokratiepolitisch ist das in Ordnung. Das Landesverfassungsgericht hat mit seiner gestrigen Entscheidung alle wahlberechtigten Berliner in den Stand eines echten Souveräns gehoben, der nicht nur alle vier, fünf Jahre neue Parlamente wählen, sondern laufend mitregieren darf. Aber finanzpolitisch ist das eine Katastrophe, weil Volksbegehren in der Regel die Interessen einer bestimmten Klientel bedienen, die zukünftig in die Taschen aller Steuern zahlender Bürger fassen dürfen. Davon auszugehen, dass der verantwortungsvolle Bürger die Lage der Staatsfinanzen in jedem Einzelfall sorgfältig abwägen und zukünftige Generationen vor einer ungebührlich hohen Staatsverschuldung schützen wird, ist zwar ehrenwert, aber naiv.

Das zweite Urteil des Verfassungsgerichts, das ein Volksbegehren zur Offenlegung der Verträge über die Privatisierung der Berliner Wasserbetriebe für rechtens erklärt, ist weniger problematisch. Es untersagt dem Senat, die angebliche Rechtswidrigkeit eines Plebiszits bereits festzustellen, bevor das Volksbegehren stattfindet. Sollte es erfolgreich sein, dürfen anschließend die Gerichte bemüht werden. Das ist in Ordnung, denn die Gesetzgebung des Landesparlaments darf ja auch erst juristisch überprüft werden, wenn sie beschlossen ist. Dieses Urteil rückt den Stellenwert der direkten Demokratie nur zurecht: Die parlamentarische und die Volksgesetzgebung sind als absolut gleichwertig zu betrachten. Aber wer meint, es wäre doch lustig, ab jetzt jeden Quatsch den Bürgern zur Abstimmung vorzulegen, wird sich in den Finger schneiden. Und die direkte Demokratie schnell demontieren. Denn selbst die streitlustigsten Berliner werden auf Dauer nicht dafür zu haben sein, die jeweilige Regierung mit völlig abenteuerlichem und rechtswidrigen Forderungen zu konfrontieren. Solche Volksbegehren werden sich in der Regel selbst erledigen. Für beide Urteile sind übrigens nicht die Richter zu schelten. Sie haben nur interpretiert, was der Landesgesetzgeber mit einer Novellierung des Volksabstimmungsgesetzes 2006 erreichen wollte: Die Stärkung der direkten Demokratie. Damals haben alle fünf Abgeordnetenhausfraktionen zugestimmt, ohne die Folgen richtig einzuschätzen. Es wäre besser, wenn jetzt nicht die eine Partei mit dem Finger auf die andere zeigt. Das Landesparlament wird sich gemeinsam überlegen müssen, ob es zur Volksgesetzgebung in dieser revolutionären Form steht, oder ob im Interesse solider Staatsfinanzen das Abstimmungsrecht korrigiert werden muss.

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