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Auf den Punkt: Was der Staat nicht darf

Jost Müller-Neuhof: Auch für Schwerverbrecher muss Recht gelten.

In den Urteilen der Gerichte heißt er nur M. Vielleicht ist dieser Mann nicht als Verbrecher geboren worden, aber er ist es bald geworden. Der Weg von M.: Raub, Diebstahl, Mordversuche. Seit seinem 15. Lebensjahr hat er nicht viel vom Leben draußen gesehen. Stattdessen Gewalt, auch hinter den Zellenmauern, an Mithäflingen, Vollzugshelfern. Er klebt sich Hitler, Goebbels und Hakenkreuzbilder an die Wand, prahlt, schimpft und beleidigt. Es wird im Knast nicht besser mit ihm, es wird schlimmer. Etwas passt ihm nicht, er rastet aus; geht mit Schraubenziehern auf die Menschen los, bricht ihnen das Nasenbein. Rücksichtslos. Unberechenbar. Kalt.

Und so einer soll jetzt womöglich freikommen? Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Sicherungsverwahrung läuft darauf hinaus. Wird es rechtskräftig, ist Deutschland verpflichtet, sich entsprechend den Europanormen zu verhalten. Das heißt: Nicht nur M. hätte ernste Aussicht, in Freiheit zu kommen, sondern auch 70 weitere Menschen, die von den Richtern derzeit noch als gefährliche Hangtäter in deutschen Gefängnissen verwahrt werden.

Deutschland, das ist die harte Botschaft aus Straßburg, verletzt ihre Menschenrechte. Deutschland darf mit diesen 70 Schwerverbrechen nicht machen, was es will. Deutschland, das sich selbst so gern als Musterrechtsstaat sieht, bekommt gesagt, was es zu tun hat. Das ist schwer zu verdauen für ein Land, das sich vor gut zehn Jahren dazu entschieden hat, mit Hangtätern wenig Milde zu zeigen.

"Wegsperren - und zwar für immer", lautet ein in Erinnerung gebliebenes Wort des früheren Kanzlers Gerhard Schröder unter dem Eindruck spektakulärer Sexualtaten an Kindern. Folglich hob man in einem ersten Schritt die geltende Höchstfrist von zehn Jahren für die Sicherungsverwahrung auf. 70 Menschen, für die es bei ihrer Verurteilung noch ein klares, allerspätestes Entlassungsdatum gab, sahen sich plötzlich auf ewig in Haft.

Es gibt keinen Zweifel: Der Staat darf seine Bürger vor Verbrechern wirksam schützen. Er darf dabei nicht nur ihre Schuld ahnden, er darf sie in besonders gravierenden Fällen ausnahmsweise auch vorbeugend hinter Schloss und Riegel setzen. Was er nicht darf: Sie erst für eine feste Zeit wegsperren, und ihnen dann erst ein paar Jahre später plötzlich sagen, es war für immer. Schwerverbrecher haben wenig Rechte, aber sie müssen dem Staat trauen dürfen wie jeder Bürger. Nur aus diesem Vertrauen legitimiert der Staat seine Strafen für die, die seine Regeln verletzten.

Bricht der Staat selbst diese Regeln, setzt er also rückwirkend Strafen fest, wird er ein Willkürstaat. Er wird selbst zum Verbrecher. Das Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs kommt deshalb nicht überraschend. Das Bundesverfassungsgericht hatte den Wegfall der Zehnjahresfrist noch mühevoll, detailliert und sehr theoretisch gerechtfertigt, weil eine Sicherungshaft im formalen Sinne keine Strafe sei und man den Willen des deutschen Parlaments zu respektieren habe.

Die Europäer sehen das anders, praktischer, und vor allem werfen sie den Deutschen vor, sich um ihre hoffnungslos Verwahrten mehr oder weniger einen Teufel zu scheren; und es werden immer mehr, seit Jahren schon, zurzeit sind es über 500. Mitleid mit ihnen muss niemand haben. Aber sie sitzen nicht in den Schuld- und Hungertürmen des Mittelalters. Man muss ihnen helfen, eine Perspektive zu gewinnen. Und das tut niemand.

Nein, es gibt kein grundsätzliches Misstrauen am deutschen Rechtsstaat, es steht auch nicht das Konzept der Präventivhaft in Frage, Schuld und Strafe bleiben nationale Angelegenheiten. Deutschland darf kämpfen, den Fall in einem Berufungsverfahren zu seinen Gunsten zu wenden. Die Aussichten sind gering, das Urteil war einstimmig, selbst die deutsche Richterin, eine Ex-Verfassungsrichterin, stimmte gegen ihr Land. Europa hat gesprochen. Wir haben mit den Tätern in öffentlicher Erhitzung auch die Zweifel an unseren eigenen Maßnahmen gegen sie weggesperrt. Man kann sich jetzt über das Urteil empören. Man kann es aber auch in Demut annehmen und alles dafür tun, dass die 70 Betroffenen nie wieder eine Tat begehen.

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