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Kommentar: Bleiben nur noch gebackene Bohnen

"Der Kontinent ist isoliert", hieß es früher auf der Insel. Jetzt kontinentalisiert sich Großbritannien zusehends. Dass das nicht immer gut ist, zeigt diese Unterhauswahl.

Von Markus Hesselmann

Großbritannien – das ist doch jene putzige Insel, die uns mit allerlei Schrulligkeiten immer wieder für sich einnimmt: gebackene Bohnen zum Frühstück, fünftägige Cricketspiele und ein Wahlrecht, bei dem man auch ohne Stimmenmehrheit locker gewinnt. Der britische Stolz auf Althergebrachtes zieht besonders uns Deutsche an, weil wir uns die Traditionen geschichtsbedingt abgewöhnt haben.

Doch was nützt alle Tradition, wenn etwas schiefgeht? Trotz des Mehrheitswahlrechts hat diese Unterhauswahl, sonst meist Sinnbild glasklarer politischer Entscheidungsfindung, keinen Sieger hervorgebracht. Tory-Chef David Cameron und Labour-Chef Gordon Brown sind jeweils auf die Unterstützung der Liberaldemokraten unter Nick Clegg angewiesen, um eine Regierung zu bilden. Auf welchen der beiden sich die Lib Dems auch einlassen: Sie werden alles daransetzen, das Mehrheitswahlrecht, das sie als kleinere, aufstrebende Partei ohne Milieus und traditionelle Gefolgschaft benachteiligt, möglichst bald durch das Verhältniswahlrecht zu ersetzen.

„Der Kontinent ist isoliert“, hieß es früher auf der Insel, wenn die Fähren nach Calais wegen Nebels mal wieder nicht ablegen konnten. Jetzt kontinentalisiert sich die Insel zusehends. Eine Unterhauswahl wird zur Hängepartie, mit Kandidaten, die sich sämtlich zu Siegern erklären, und dazu noch den Grünen im Parlament – wenn auch erst einmal nur vertreten durch eine einzige Abgeordnete.

Was ist daran noch typisch britisch? Vielleicht das Schlangestehen am Wahllokal und der genauso pragmatische wie irregeleitete Entschluss mancher Wahlleiter, das Lokal einfach länger offen zu halten, auch wenn auf den iPhones und Blackberries der anstehenden Wähler schon die Prognosen der BBC laufen und das Wahlverhalten beeinflussen.

Nur wenige Minuten nach Schließung der Wahllokale sprachen führende Politiker bereits wieder von einer Reform des britischen Wahlrechts. Innenminister Alan Johnson nannte dabei sogar Deutschland als Vorbild, auf der Insel ein über Jahrzehnte verpöntes politisches Stilmittel. Wer allerdings derzeit wieder den lähmenden Koalitionsstreit und die Prinzipienreiterei unter politischen Partnern in Deutschland erlebt, fragt sich, ob die Briten mit einem fliegenden Wechsel zum Verhältniswahlrecht wirklich gut beraten sind.

Ralf Dahrendorf, der im vergangenen Jahr verstorbene Soziologe und deutsch-britische Lord, hat bis zuletzt auf den wichtigsten Vorteil des britischen Mehrheitswahlrechts hingewiesen: stabile Regierungen mit großer Gestaltungskraft. Dass es jetzt zum ersten Mal seit 1974 zunächst keine klare Regierungsmehrheit gibt, ein sogenanntes „Hung Parliament“, reicht als Argument, eine lang erprobte Tradition über den Haufen zu werfen, einfach nicht aus.

Cricket wird übrigens auch immer seltener fünftägig gespielt. Und die Insel ist mit dem Kontinent längst durch einen nebel-, wenn auch nicht immer rauchfreien Tunnel verbunden. Bleiben nur noch die gebackenen Bohnen.

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