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Aufarbeitung der NSU-Morde: Die wahre Dimension rechtsextremer Gewalt wird verdrängt

Als vor einem Jahr die unfassbaren Verbrechen des NSU ans Tageslicht kamen, war das wie ein Weckruf - zumindest für die Behörden, die jetzt erklären müssen, wie so etwas möglich war. Doch der oft beschworene „Mentalitätswechsel“ ist nur zum Teil erfolgt.

Von Frank Jansen

Es bleibt unfassbar. In Deutschland, ausgerechnet hier, wo der nationalsozialistische Staatsterror zuhause war, konnte die Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ fast 14 Jahre morden, sprengen und rauben. Mit dem Hass und der Kälte der Altnazis töteten die jungen Thüringer neun Migranten türkischer und griechischer Herkunft und eine „urdeutsche“ Polizistin.

Deutschland hat Grund, sich zu schämen. Für den fern erscheinenden Schrecken von 1933 bis 1945 und für den, der erst vor einem Jahr endete. Und dafür, dass es nicht vorbei ist. Neonazis prügeln weiter und bei manchen werden die Mordfantasien durch das Beispiel NSU noch angestachelt. Mindestens 148 Menschen haben Rechtsextreme seit der Wiedervereinigung umgebracht. Der 4. November, der Tag, an dem der NSU-Terror offenbar wurde, ist eine von vielen Chiffren für tödliche Gewalt. Die Anlässe, sich zu schämen, werden nicht weniger.

Oder ist ein solcher Befund ungerecht, wird die geleistete Sühne und Aufklärung nicht hinreichend gewürdigt? Immerhin spüren die Untersuchungsausschüsse des Bundestages und dreier Landtage hartnäckig den Versäumnissen der Behörden bei der Suche nach Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe nach. Und in Thüringen hat die Schäfer-Kommission gravierende Mängel bei Polizei, Justiz und Verfassungsschutz gerügt. Die Chefs von vier Behörden des Verfassungsschutzes sind zurückgetreten. Ex-Bundesinnenminister Otto Schily hat einen schwerwiegenden Irrtum zugegeben bei der ersten, verharmlosenden Bewertung des NSU-Bombenanschlags in Köln. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich versucht, die Sicherheitsbehörden effizienter zu organisieren. Und der NPD droht ein Verbotsverfahren. Die Angehörigen der vom NSU ermordeten Menschen sowie die überlebenden Opfer der Sprengstoffanschläge und Bankraube erhalten endlich etwas Anerkennung, materiell und damit vielleicht auch seelisch. Ist es jetzt nicht mal gut?

Nein. Es ist zu wenig. Der nach dem 4. November 2011 oft beschworene „Mentalitätswechsel“ ist nur zum Teil erfolgt. Die wahre Dimension rechtsextremer Gewalt wird weiter verdrängt.

Dass mindestens 148 Menschen seit der Wiedervereinigung bei rechten Gewalttaten starben, ist auch heute nur eine inoffizielle Zahl, wiewohl recherchiert und gut belegt. Offiziell ist von 63 Todesopfern die Rede. Seit dem 4. November 2011 hat aus eigenem Antrieb nur Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht geprüft, ob die Zahl seines Landes zu klein sein könnte. Und er hat drei Fälle als rechts motivierte Tötungsverbrechen nachgemeldet. Ansonsten registrierte noch Sachsen, mit Anfragen gelöchert von der Linksfraktion, zwei Tote mehr. Das war’s.

Und wie sieht es jenseits der Politik aus? Nach dem 4. November 2011 gab es keine größeren Demonstrationen gegen rechten Terror, keine Lichterketten. Und keines der Bücher über den NSU-Terror hat es auf eine Bestsellerliste geschafft. Da hält sich seit Monaten der Titel „1812“, ein Werk über Napoleons Russlandfeldzug. Ein gutes Buch, zu Recht auf den Listen – und ein Hinweis, welches zeitgeschichtliche Thema in diesem Jahr vielen Lesern wichtig erscheint. Und welches nicht, 200 Jahre nach 1812.

Das Interesse an der Geschichte rechtsextremer Gewalt in der Bundesrepublik kann aber bis 2212 noch wachsen.

Was meinen Sie, liebe Leser, hinkt die deutsche Gesellschaft bei der Aufarbeitung der NSU-Morde hinterher? Oder gibt es doch ein Umdenken? Am Montag, den 5. November haben Sie die Gelegenheit mit dem Autor darüber live zu diskutieren. Im Live-Chat wird Frank Jansen dann auch Ihre Fragen rund um die verschiedenen Formen des Extremismus und die Terrorgefahr in Deutschland beantworten. Von 13 bis 14 Uhr, hier auf Tagesspiegel.de!

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