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Aufbau West statt Ost?: Was war und was bleibt

Die These, jetzt sei mal der Westen der Republik dran mit den Investitionen, tauchte aus der Kammer der politisch unkorrekten Gedanken wie ein Spuk auf. Angela Merkel hatte ihn rausgelassen. Gerd Appenzeller über einen uralten menschlichen Streit.

Als ihr Minister Tiefensee im Sommer etwas Ähnliches zu sagen gewagt hatte, lud er so viel Schimpfe auf sich, dass er verstummte. Auch die Kanzlerin will das Richtige, was sie gesagt hatte, nun plötzlich nicht mehr so gemeint haben. Das ist Feigheit vorm Parteifreund oder Koalitionspartner und ändert nichts an den Fakten. Der Streit, um den es geht, ist nämlich alt, sozusagen ein Ur-Thema jeder menschlichen Gemeinschaft. Es geht um die Verteilungsgerechtigkeit. Bekommt jeder, was ihm zusteht, oder was er braucht? Wer entscheidet, wem was zukommt, und sind alle gleich oder manche ein bisschen mehr gleich?

Im konkreten Fall stand am Anfang eine Lebenslüge, geboren aus der Angst vor Zumutungen an die Bürger der alten Bundesrepublik. Der Kanzler der Einheit, Helmut Kohl, beschloss, dass es für die Sanierung der ehemaligen DDR keinerlei finanziellen Sonderopfers bedürfe, sondern dass der ökonomische Gigant Deutschland das bei laufendem Normalbetrieb leisten könne. Daraus resultierte „Aufbau Ost vor Ausbau West“. Die Direktive wurde gründlich umgesetzt. Während die Infrastruktur in den neuen Ländern heute teilweise wirklich Weltspitze ist, wurde im Westen nicht einmal für den Erhalt des Vorhandenen eine müde Mark ausgegeben. Die Substanz vergammelte. Rund um Bahnhöfe, in Schulen und auf den Straßen sieht es jetzt in Nordrheinwestfalen zum Beispiel fast so aus wie in der DDR vor 1989.

Die Menschen vor allem diesseits der alten Demarkationslinie haben das lange klaglos ertragen. Sie dachten, der tatsächliche Umbau, Neubau oder Aufbau fände ja nur im Osten statt. Nicht nur real, in der Wirtschaft, sondern auch mental, gesellschaftlich. Aber das stimmte nicht. Auch die alten Gewissheiten des Westens wurden zu Hohlräumen. Das stolze Gefühl zum Beispiel, die soziale Marktwirtschaft im Verein mit dem rheinischen Kapitalismus würde wie ein großer Schirm vor jeglicher Unbill schützen und für eine gerechte Verteilung der Güter und Gelder sorgen. War aber nicht so. Als der Kommunismus verschwand, ging der sozialen Marktwirtschaft plötzlich die Luft aus. Erst dem Sozialen, dann auch der Wirtschaft, denn die setzte sich, Produktion für Produktion, ab, nach Rumänien, China, oder noch weiter. Nun hatte das mit dem Zerfall des Kommunismus direkt wenig, mit der ihm folgenden Globalisierung jedoch sehr viel zu tun. Aber im Endeffekt führte eben der ideologische Abbau Ost direkt zur Demontage des Selbstbewusstseins West.

Beiden Seiten gemeinsam ist, dass sie sich auf mehr Ungleichheit einrichten mussten, was den Menschen im Osten wie im Westen bis heute gleichermaßen schwerfällt. Im Osten hatten alle gleich wenig gehabt, wenn man von der Nomenklatura einmal absieht. Im Westen gab es zwar Reiche, aber nur wenig Arme – und die Diskrepanzen zwischen den niedrigsten und den höchsten Einkommen waren lange nicht so groß wie jetzt. Die alte Bundesrepublik ist viel egalitärer gewesen als Frankreich oder Großbritannien.

Bleibt als Bilanz, dass man im Geben und Nehmen, bei der Verteilungsgerechtigkeit also, auf den Ist-Zustand und nicht auf die Vergangenheit schauen darf. Denn die ist vorbei, endgültig.

Gerd Appenzeller

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