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Meinung: Aufschnüren heißt Auflösen

Der Entwurf für eine EU-Verfassung sollte im Ganzen angenommen werden Von Hans-Dietrich Genscher

Ihr Deutschen sollt Europa nicht beherrschen und ihr sollt es auch nicht teilen wollen, sondern ihr Deutschen als Volk in der Mitte habt die Aufgabe, den Völkern um euch herum verständlich zu machen, dass Europa nur gemeinsam eine Zukunft hat.“

So beschrieb der Franzose Paul Claudel im Sommer 1945, wenige Wochen, nachdem die Nacht des Faschismus über Europa zu Ende gegangen war, die europäische Berufung der Deutschen. Das Grundgesetz hat sie mit der Verpflichtung auf die Einigung Europas bekräftigt und die Geschichte hat sie bestätigt mit der Einheit Deutschlands als europäischem Deutschland in einem geeinten Europa. Der „Brief zur deutschen Einheit“, der die Unterschrift des liberalen Außenministers Scheel trägt, hatte es als das Ziel deutscher Politik auch mit den Ostverträgen bezeichnet: „… auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk seine Einheit in Freiheit finden kann.“

Zu den gemeinsamen Traditionen der demokratischen Parteien in Deutschland gehört das Bekenntnis zur Einheit Europas. CDU und SPD-Bundeskanzler und Außenminister, drei liberale Außenminister und nun auch ein grüner haben sich stets in dieser Verantwortung gesehen. Das muss auch jetzt gelten, wenn es darum geht, in der Regierungskonferenz, die noch vor Ende dieses Jahres abgeschlossen sein soll, eine Einigung über den Entwurf einer europäischen Verfassung zu erzielen. Der Entwurf des Konvents sollte das möglich machen. Das Ziel, Europa einen verfassungsrechtlichen Rahmen zu geben und eine neue Zukunftsperspektive zu eröffnen, erreicht er – sicher nicht in allen Bereichen mit der wünschenswerten Klarheit, zum Teil auch nicht weit genug gehend und gewiss auch an manchen Stellen angreifbar. Das war übrigens bei der Verabschiedung unseres Grundgesetzes keineswegs anders.

Die europäischen Regierungen sollten sich von dem gemeinsamen Willen leiten lassen, den Entwurf als Ganzes zu bewahren, denn: Wer einen Stein herausbricht, beschwört die Gefahr des Zusammensturzes des Ganzen. Aufschnüren führt zu Auflösen. Deutschland und Frankreich in ihrer bewährten Rolle als Motor der europäischen Einigung haben das erkannt. Ihre Aufgabe ist es jetzt, dafür bei allen anderen Mitglied- und Beitrittsstaaten zu werben. Die Verantwortung der deutschen Parteien ist es, angesichts ihrer Bedeutung innerhalb der immer enger zusammenwachsenden europäischen Parteienfamilien der europäischen Berufung der Deutschen gerecht zu werden. Das heißt, schon jetzt für die Verabschiedung des europäischen Verfassungsentwurfs einzutreten – allgemein akzeptierte Änderungen oder Ergänzungen in Einzelfragen nicht ausgeschlossen.

Das verlangt von jeder deutschen Partei ein klares Ja. Ein Ausweichen in ein „Nicht jetzt und nicht so“ ist nicht erlaubt. Europa, das sich in der Vergangenheit stets auf die europäische Gestaltungskraft Deutschlands verlassen konnte, hat Anspruch auf eine klare Position von Regierung und Parlament. Dieser Antwort kann und darf niemand ausweichen. Auch die Forderung nach einem Volksentscheid bewahrt keine Partei vor der Notwendigkeit, schon jetzt ihr Ja oder Nein zu dem Verfassungsentwurf auszusprechen. Deutschland als Promoter der Aufnahme unserer östlichen Nachbarn in die EU hat auch eine Vertiefung der EU verlangt. Der europäische Verfassungsentwurf ist ein substanzieller Schritt in diese Richtung. Ein Scheitern des Verfassungsentwurfes wäre ein schwerer Rückschlag für Europa.

Europa muss jetzt seinen Platz in der neuen Weltordnung einnehmen. In vielen Regionen gilt die EU als ein Beispiel für ein zukunftsorientiertes Zusammenleben von Völkern. Heute gibt das Beispiel Europa Hoffnung für die Grundlagen einer neuen Weltordnung. Der Grundsatz der Gleichberechtigung und Ebenbürtigkeit der Völker, die Herrschaft des Rechts anstelle des Rechts des Stärkeren und der Grundgedanke der Solidarität eröffnen die Chance für eine neue Weltordnung, die von allen Regionen als gerecht empfunden werden kann.

Der Autor war von 1974 bis 1992 Außenminister. Foto: Mike Wolff

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