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Meinung: Aufsteigerland ist ausgebrannt

Unterschichtenkinder haben keine Lobby – muss ihnen die Hauptschule reichen?

Sollen wir die Hauptschule nicht einfach abschaffen? Kein dickes Kind wäre doch zu dick, wenn die Eltern nur aufpassten. Parallelgesellschaften in Deutschland? Junge Migrantinnen wollen gute Schulabschlüsse, sagt die Integrationsbeauftragte. Die Nation entdeckt ihre Hinterhöfe. Und ob es die Hauptschüler, die dicken Kinder oder die Zwangsheiraten sind, der Reflex ist stets der gleiche. Man sieht hin, schaudert kurz und tritt die Flucht an. Auf den gruselig-faszinierten Blick in die Hinterhöfe folgt die alte Verdrängung. Unterschichten gibt es in Deutschland nicht, jedenfalls nicht als Stoff für politische Taten.

Dabei haben die Phänomene, die, wären wir ehrlich, als großes Unterschichtenproblem der Gesellschaft angepackt werden müssten, neuerdings Konjunktur auf Konferenzen, in Magazinen, im Small Talk der aufgeklärten Kreise. Ein Realitätsgewinn, immerhin, und der Abwehrreflex ist im Grunde ja verständlich. Denn vom Blick in die Hinterhöfe ist der Weg zur Erkenntnis nicht weit: Es handelt sich um Entwicklungen, denen mit Kurzfrist-Programmen nicht beizukommen ist. Sie berühren die Grundeinstellung des Landes zu den Schwachen, vor allem zu deren Kindern. Ihre Probleme entziehen sich dem Mainstream, der (zu Recht) die Eigenverantwortung des Bürgers zur wichtigsten Therapie erklärt hat, um den überforderten Sozialstaat zu sanieren.

Das Unterschichtenkind hat in Deutschland kein Gegenwartsgesicht. Legionen von Lehrern kämpfen in ihren Haupt- oder Gesamtschulen Jahr für Jahr für diese Kinder, öffentlich unbeachtet. Oder halb verachtet wie der Sozialarbeiter, der vor dreißig Jahren noch ein bewunderter Robin Hood und Weltverbesserer war. Die vielbesungene Zivilgesellschaft hält vorsorglichen Abstand zu den Unterschichten-Milieus. Die ehrenamtliche Mittelschicht verkauft lieber Secondhandkleidung im Dritte-Welt-Shop als den Rotznasen aus Hamburg-Wilhelmsburg Nachhilfe im Rechnen zu geben. Der Neuköllner Bezirksbürgermeister musste sehr laut werden, bis die aufgeklärte Metropole Berlin zur Kenntnis nahm, dass im Norden seines Stadtteils 70 Prozent aller Kinder nur mit Hauptschul- oder ganz ohne Abschluss ins Erwachsenenleben gehen. Von Konsequenzen kann noch keine Rede sein.

Das Unterschichtenkind mögen wir andererseits sehr gern – als Gestalt der frühen Jahre. Denn da sehen wir uns selbst, die Angekommenen der großen Aufsteigernation Deutschland. Ungefragt hat es kürzlich der Bundeskanzler zum Titelhelden einer schönen Bildergeschichte im „Stern“ gebracht – eine romantische Erzählung von Armut, von Enge und Wut. „Spiel nicht mit den Schröder-Kindern“, stand darüber. Daran halten wir uns heute auch. Doch Lieder wie das von Franz Josef Degenhardt singen wir darauf nicht mehr.

Denn den Unterschichten von heute fehlt ganz eklatant, was in den ersten drei Jahrzehnten den ganz besonderen Charme, ja, den Charakter dieses Landes ausgemacht hat: der leidenschaftliche Wunsch nach Aufstieg und die engagierte Repräsentanz der Aufsteiger in den Volksparteien, in Staat und Zivilgesellschaft. Scheinbar sind es ausgestorbene Typen: der geachtete Volksschullehrer, der volkstümliche Bürgermeister, der Anwalt für die Armen, der Schularzt, der Pfarrer, auf den man hört. Dabei gibt es sie noch, die richtig guten Menschen. Helden sind sie in Fernsehserien, im wirklichen Leben gelten sie eher als traurige Toren.

Das Aufsteigerland ist ausgebrannt. Die da unten wollen nicht mehr nach oben. Sie richten sich ein in deutschen und anderen Parallelwelten. Denn dort kann man irgendwie auskommen, mit Schwarzarbeit, Sozialhilfe, vor deutschen und türkischen Fernsehkanälen. Und die oben Angekommenen treten nicht für sie ein. Denn ihre Lebenserfahrung und die herrschende Lehre besagen, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sein kann.

Doch wir brauchen sie, die Unterschichtenkinder. Genauso wie die Schröder-Kinder im Nachkriegsdeutschland.

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