zum Hauptinhalt
Inspirierender Ort. Unser Gastautor begriff in einem bestimmten Moment, warum die Reichstagskuppel so beliebt ist .

© Thilo Rückeis

Berlin-Debatte: Berlin hat einen normalen Moment verdient

"New York Times"-Korrespondent Nicholas Kulish hat genug Zeit im "wirklichen" Berlin verbracht, um zu erkennen, dass das Tagewerk einiger Zugereister in einem kleinen Bezirk nur ein winziger Bestandteil des Lebens dieser Stadt ist.

Als ich im Jahr 1995 nach Berlin kam, meinte jeder, mir erzählen zu müssen, dass ich die spannenden Tage Berlins verpasst hatte. Die besten Tage, so hieß das dann immer, waren die, als die Mauer noch stand. Leider könne der unbeschreibliche Zauber des Partymachens in einem politischen Betonkäfig nicht wiederhergestellt werden.

Ich glaubte ihnen. Jung sein bedeutet, sich so zu fühlen, als habe man immer etwas gerade verpasst, und als die Mauer fiel, war ich noch an der High School gewesen. Aber irgendwie fühlte sich Berlin für mein 20 Jahre altes Ich im Jahr 1995 immer noch ziemlich aufregend an. Der Weg von meiner Wohnung in Weißensee zur Humboldt-Universität, auf dem ich Tag für Tag in der Tram an dem monolithischen schwarzen Ernst-Thälmann-Denkmal vorbeirumpelte, übertraf alles, was mein suburbanes amerikanisches Vorstellungsvermögen sich hätte ausmalen können.

Es machte auch nichts, dass die Temperaturanzeigen auf den Bank- und Apothekenschildern minus 18 Grad Celsius anzeigten, wenn es doch ständig Partys mit polnischen Malern und italienischen Komponisten in abgeranzten Prenzlauer-Berg-Altbauten gab, um die Kälte zu vertreiben.

Aber jedes Mal, wenn ich später nach Berlin zurückkam, auf Besuch oder um dort zu wohnen, war die Stadt ein bisschen weniger cool. Jetzt konnte auch ich wissend nicken, wenn Leute irgendjemandem verkündeten: „Du hast die guten Zeiten verpasst. Die Mitte der 90er Jahre war großartig.“ Manchmal – okay, oft – sagte ich es selbst.

Als ich im Jahr 2007 gealtert und verantwortungsbewusster als Korrespondent der „New York Times“ in die Stadt zurückkam, schien mir offensichtlich, was mit ihr passiert war. Sie hatte ihren Witz verloren, ihre Originalität, ihre Spontaneität. Prenzlauer Berg war bis zum Rand mit Mamis und Amis gefüllt. Die Stadt hatte ihren Zenit überschritten. Kaputte S-Bahnen, marode Bürgersteige, „Dauerbaustellen“ – es gab so viele Unannehmlichkeiten und komplette Fehlentwicklungen, an denen man sich entlang- arbeiten musste. Die Stadt hatte sich gewandelt, und zwar nicht – so schien es mir zu der Zeit – zum Besseren. Ich nahm eine Auszeit, um ein Buch zu schreiben, und begann, mehr Zeit in Kairo zu verbringen. Das große Netzwerk vergleichsweise effizienter öffentlicher Verkehrsmittel, das wir in Berlin – S-Bahn-Chaos hin oder her – immer noch genießen, war dort nur eine schöne Erinnerung.

Nicholas Kulish
Nicholas Kulish

© Promo

Das vielfältige kulturelle Leben, die Sicherheit vor Belästigungen und Übergriffen, die die meisten Frauen in Berlin empfinden, die Parks und friedvollen Bänke überall – ich bemerkte erst jetzt, was ich alles als selbstverständlich hingenommen hatte.

Zudem hatte ich das Pech, dass mich während der ägyptischen Revolution die Geheimpolizei für einige Zeit festsetzte. Die braunen, gepolsterten Wände der Verhörzelle hätten auch zu einer Stasi-Einrichtung gehören können. All die Ostalgie und „East Chic“-Gefühle, die ich als junger Mann in mich aufgenommen hatte, wurden plötzlich dunkel eingefärbt von einem Verständnis dafür, wie machtlos man sich im Angesicht ohne Einschränkung agierender Geheimdienste fühlen kann. Demokratie, Stabilität, sogar die gefürchtete Vorhersehbarkeit fingen an, im Vergleich ziemlich gut dazustehen. Ein Käfig inmitten der Unfreiheit ist eben doch nicht der beste Ort, eine Party zu feiern.

Lesen Sie auf Seite 2: Warum das Tagewerk einiger Tausend Zugereister in einem kleinen Bezirk nur ein winziger Bestandteil des Lebens Berlins ist.

Noch heute erwische ich mich oft dabei, an den Abend im Reichstag im Juni 2010 zu denken, als die Bundesversammlung Christian Wulff zum Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland machte. Das war die Nacht, in der ich ein für allemal meinen Frieden mit Berlin machte. Zwischen den Wahlgängen realisierte ich, dass Sir Norman Fosters Kuppel zugänglich war, aber ohne Schlangen und ohne Touristen. Die Sonne schien noch, der Himmel war klar. Ich begriff sofort, warum dieser Ort so beliebt war. Ich konnte meine Stadt sehen – nach 16 Jahren habe ich keine Angst mehr, sie so zu nennen – und sie sah gut aus. Tiergarten, Potsdamer Platz, Spree, Regierungsbezirk, alle waren groß in Form.

Wulff gewann, Gauck verlor und die deutsche Nationalhymne wurde gesungen. Berlin war in diesem Moment weder „cool“ noch auf coole Weise „edgy“, aber ich fühlte, dass diese Stadt, vielleicht sogar dieses Land, einen normalen Moment verdient hatte, und dass ein langweiliger Kandidat nicht immer das Schlechteste war, wenn man sich ansah, was es auf der Welt für Alternativen gab. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt außerdem bereits genug Zeit in der „wirklichen“ Stadt verbracht, in Lichtenberg und Dahlem, in Wedding und Moabit, um zu verstehen, dass Berlin ein größerer Ort und dass Tagewerk einiger Tausend Zugereister in einem kleinen Bezirk nur ein winziger Bestandteil des Lebens dieser Stadt war.

Wir Journalisten recyclen den „Arm, aber sexy“-Slogan des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit von Zeit zu Zeit, und vergessen dabei, dass ein Bürgermeister eine Stadt verkaufen muss. Die Attribute „reich und prosperierend“ stehen ihm bis heute nicht zur Verfügung. Aber Berlin hat etwas, dass Künstler wie Ai Weiwei und von Langeweile getriebene Schreiber dazu bringt, hier leben zu wollen.

Als ich nach Berlin zurückkam, hatte ich eine Praktikantin. Sie war 22 Jahre alt und begann, mir von den Partys und Clubs zu erzählen, die sie besuchte, in Abrisshäusern und ehemaligen Schwimmbädern. Die Orte lagen nicht mehr in der Mitte der Stadt, eher an ihren Rändern. Ein paar von ihnen besuchte ich sogar. Ich verstand, dass Berlin immer noch dort war, wo ich es in den neunziger Jahren verlassen hatte. Generell: Wenn wir „Wahlberliner“ sagen, dass die Stadt nicht mehr so cool wie einstmals ist (und ich stelle mir dabei sogar vor, dass es Menschen gegeben hat, die sich in der großartigsten Nacht der Weimarer Ära sehnsuchtsvoll an die größere Intimität der wilhelminischen Zeit erinnerten), ist das nicht, was wir wirklich meinen.

Was wir meinen, bewusst oder unbewusst, ist, dass wir selbst uns verändert haben. Wir haben uns in Gewohnheiten gefügt, arbeiten mehr und gehen seltener zu Konzerten. Wir hetzen zu Terminen, werden dabei von den Dauerbaustellen behindert, und lassen die Stadt links liegen. Und anstatt sie zu vermissen, reden wir uns ein, sie sei gar nicht da.

Übersetzt von Johannes Schneider

„Times“-Korrespondent und Tagesspiegel-Kolumnist Roger Boyes hat in einem Essay Abschied von Berlin genommen und ist darin hart mit der Stadt ins Gericht gegangen. Ihm antworteten bereits der polnische Korrespondent Piotr Buras (7. Juli), der italienische Journalist Guido Ambrosino (5. Juli), der Sozialwissenschaftler Norbert Kostede (10. Juli), die auf Distanz zu Boyes’ These gingen, während Ernst Elitz, der frühere Intendant des Deutschlandradios in der Ausgabe vom 15. Juli mehr Leistung und weniger Bussi-Bussi in Berlin forderte. Am 23. Juli griff der niederländische Journalist Wierd Duk in unsere Hauptstadt-Debatte ein und kam zu dem Schluss: Ja, du bist wenig strebsam, und du wirkst provinziell. Berlin, bleib so wie du bist. Heute schreibt Nicholas Kulish, Berlin-Korrespondent der „New York Times“.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false