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Berlin-Debatte: Berlin ist provinziell – zum Glück

Die Stadt stellt sich nicht den Herausforderungen einer europäischen Metropole? Das muss kein Nachteil sein, wie das Beispiel Amsterdam zeigt. Dort hat sich das gesellschaftliche Klima verschlechtert.

„Times“-Korrespondent und Tagesspiegel-Kolumnist Roger Boyes hat in einem Essay Abschied von Berlin genommen und ist darin hart mit der Stadt ins Gericht gegangen. Ihm antworteten bereits der polnische Korrespondent Piotr Buras (7. Juli), der italienische Journalist Guido Ambrosino (5. Juli), der Sozialwissenschaftler Norbert Kostede (10. Juli), die auf Distanz zu Boyes’ These gingen, während Ernst Elitz, der frühere Intendant des Deutschlandradios in der Ausgabe vom 15. Juli mehr Leistung und weniger Bussi-Bussi in Berlin forderte. Heute greift der niederländische Journalist Wierd Duk in unsere Hauptstadt-Debatte ein.

Vor einiger Zeit drohte der niederländische Fotograf Erwin Olaf, er ziehe nach Berlin, wenn es in Amsterdam so weitergeht“. Ein Abschied von Olaf wäre ein großer Verlust für Amsterdam, denn er ist nicht nur ein großer Künstler, Olaf ist auch ein mutiger Mensch. Wäre Olaf tatsächlich fortgezogen, dann hätte er vielleicht noch Roger Boyes treffen können, der nun nach London zurückkehrt. Weg aus der deutschen Provinz.

Zwei Männer, zwei Welten. Wo Boyes sich beklagt über Berlins Rückzug aus den Realitäten des modernen Europas, über das gewollte Unvermögen, sich den Begleiterscheinungen einer beschleunigenden Welt zu stellen, da ist Olaf gerade von einigen dieser Begleiterscheinungen dermaßen irritiert, dass er mit dem Gedanken spielt auszuwandern.

Was ist wohl los in Olafs Amsterdam? Machen die Rechts-Populisten der Partei für die Freiheit (PVV) des blondierten Polit-Kometen Geert Wilders – die auf nationaler Ebene seit Oktober 2010 mitregieren – es einem gern provozierenden Künstler wie Olaf zu schwer? Sind die tiefgreifenden Sparmaßnahmen der Mitte-Rechts-Regierung im Kulturbereich der Grund für Olafs Wut? Nein. Olaf fühlt sich in Amsterdam nicht länger wohl, wegen der dort herrschenden Homophobie. Ich weiß, diese Aussage hört sich für die meisten Ausländer merkwürdig an. Amsterdam gilt ja seit ewig als Stadt der Coffeeshops, des Rotlichtmilieus, der Gay Parades und alles anderem Toleranten .

Das war einmal, da haben die „Realitäten des modernen Europas“, wovon Boyes spricht, einiges geändert. In Amsterdam trauen sich Homosexuelle wie Olaf heutzutage nicht, länger Hand in Hand zu laufen. Zu groß ist die Gefahr, von Jugendlichen marokkanischer Herkunft beschimpft, angespuckt oder sogar verprügelt zu werden. Übrigens: Wäre Erwin Olaf nicht ein kosmopolitischer Homosexueller, sondern ein Jude mit Kippa, dann wäre die Gefahr, in Amsterdams angegriffen zu werden, genauso groß.

Warum so viel über Olafs Amsterdam, wenn wir über die von Roger Boyes so bedauerten „Nachteile“ Berlins nachdenken wollten? Um das zu verstehen, müssen wir zurückgreifen auf das Oeuvre von Johan Cruijff. In den Niederlanden gilt Cruijffs, einer der größten Fußballer aller Zeiten, als eine Art nationaler Gott. Alles, was er sagt, hat Ewigkeitswert. So wurde seine Behauptung „Jeder Nachteil hat seinen Vorteil“ zum Bestandteil des niederländischen kollektiven Bewusstseins. Also auch von meinem.

Berlin und Amsterdam im direkten Vergleich - lesen Sie weiter auf Seite 2.

Seit einigen Jahren kann ich die Vor- und Nachteile von Berlin und Amsterdam miteinander vergleichen. Ich arbeite unter der Woche in Amsterdam und bin Teilzeit-Berliner. Alle Argumente, die Roger Boyes anführt für seine Rückkehr nach London, hätte ich damals, vor vier Jahren, als ich meine Arbeit in Berlin aufgab, genauso geäußert. Ich machte deutsche Freunde und Bekannte gern darauf aufmerksam, dass Amsterdam so viel „moderner, interessanter, lebendiger und aufregender“ ist als Berlin. Ja, Berlin wirkte langweilig, selbstbezogen, provinziell, langsam. In Holland war eine lebendige Debatte entbrannt über die massive Zuwanderung von Menschen muslimischen Glaubens in den vergangenen Jahrzehnten, über den Einfluss des radikalen Islams auf sie, über die Zukunft der multikulturellen (besser: multi-ethnischen) Gesellschaft. Nach den Morden an Pim Fortuyn und Theo van Gogh war nun der schräge Geert Wilders Mittelpunkt dieser Diskussionen: Er provozierte, beleidigte, schimpfte, sagte manchmal auch etwas Vernünftiges, und was passierte? Türkische und marokkanische Niederländer, die von Wilders so hart angegriffen wurden, schlugen zurück. Ihre Intellektuellen – in Holland geboren, gut ausgebildet, und scharfsinnig – meldeten sich in der Debatte zu Wort. Endlich waren auch sie in Holland angekommen, so dachten wir.

Das alles war aufregend, und ich freute mich, als Journalist über diese Debatte berichten zu können. Jedes Mal wenn ich in Berlin war, wurde mir deutlicher wie sehr diese Dynamik hier fehlte. Was Boyes als Narkolepsie bezeichnet, also Schlafkrankheit, empfand ich als die Weigerung der deutschen politischen und medialen Klasse, die notwendige Debatte zu führen nach der sich so viele Deutsche sehnen: eine Debatte über die Frage, wie das moderne Deutschland aussehen soll, was es bedeutet, „deutsch“ zu sein, wie Deutschland die massive Immigration von Menschen positiv nutzen kann – damit nicht nur die nationale Fußballmannschaft profitiert von den Qualitäten dieser „Newcomer“; grob gesagt: damit sich auch die Türken in Neukölln endlich mal angenommen fühlen, auch wenn sie gefordert werden, sich zu integrieren, die Sprache zu lernen und ihre Kinder vorzubereiten auf eine Zukunft in Deutschland statt in Anatolien.

Was ich las in den Berliner Zeitungen, war allerdings das, was ich schon so viele Jahre gelesen hatte: Berlin ist pleite, am 1. Mai gibt es Krawalle mit Autonomen, ein Viertel der Berliner lebt vom Staat, Klaus Wowereit ist Bürgermeister, und er findet Berlin cool, weil so viele Backpacker die Stadt besuchen. Ja, wenn man aus Amsterdam, London, Moskau oder New York nach Berlin kommt, hat man schnell den Eindruck, die Stadt habe sich, wie Boyes schreibt, zurückgezogen aus den „Realitäten des modernen Europas“ .

Wir sind jetzt vier Jahre weiter. Wilders und seine Parteileute geißeln in Holland die christdemokratisch-liberale Regierungskoalition. Was mal begann als eine hoffnungsvolle Debatte, eine notwendige Abrechnung mit den Jahren der politisch-korrekten Verweigerung, den „Realitäten des modernen Europas“ ins Auge zu sehen, ist zu einer bedauerlichen Karikatur geworden: eine Schimpfkanonade auf muslimische Mitbürger.

Ausdruck dieser manchmal aggressiven gesellschaftlichen Stimmung sind nicht nur die gezielten Beleidigungen der Wilders-Anhänger von türkischen, marokkanischen und seit einiger Zeit auch polnischen Minderheiten, sondern auch die komplette Ablehnung der niederländischen Gesellschaft durch marokkanische Jugendliche – eine Mentalität, mit der Erwin Olaf konfrontiert wurde und die ihn so schockierte.

Jeder Vorteil hat also seinen Nachteil, wie die Lage in Holland beweist. Ja, Amsterdam ist vielleicht das Laboratorium des zukünftigen Europas. Aber wenn ich jetzt an den Wochenenden nach Berlin zurückkehre, die Zeitungen lese, Fernsehen schaue und mir die Leute angucke, denke ich: endlich Ruhe, endlich Normalität, keine hysterischen Politdebatten, kein Geert Wilders, nicht überall dieses Wort: „Islam“, sondern alles wie früher. Selbst Sarrazins Besuch ins Kreuzberg wird nur kurz Ärger erregen. Wowereit ist noch Bürgermeister, und das ist auch gut so. Berlin, bleib so wie du bist. Ja, du bist wenig strebsam, und du wirkst provinziell. Aber die Alternative ist noch viel schlimmer.

Der Autor ist Redakteur der niederländische Wochenzeitung „Elsevier“. Er war zwischen 2001 und 2006 Korrespondent in Berlin für die niederländische Presseagentur GPD.

Wierd Duk

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