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Beschneidung: Wenn die Ideen der Aufklärung totalitär werden

In der Beschneidungsdebatte ist ein antireligiöser Furor spürbar, eine Tendenz des Verbietens und Reglementierens. Er erinnert stark an das kirchliche Verbieten und Reglementieren aus früheren Zeiten.

Bei den Muslimen ist die Beschneidung ein Initiationsritus. Der Junge, der an der Schwelle zur Pubertät steht, soll bei dieser Prozedur zum ersten Mal Mut beweisen – das ist die kulturelle Bedeutung, die mit verschiedenen religiösen Begründungen unterfüttert wird.

Im Judentum ist die Beschneidung von Knaben seit der Zeit des babylonischen Exils üblich. Vermutlich handelte sich um eine Maßnahme, die den Zusammenhalt des jüdischen Volkes in einer feindlichen Umgebung stärken sollte. Im ersten Buch Mose sagt der jüdische Gott: „Eure Vorhaut sollt ihr beschneiden. Es soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch.“ Dieses Zeichen erleichterte natürlich auch den Antisemiten ihr Geschäft. Zum vermutlich ersten Mal wurden im zweiten vorchristlichen Jahrhundert auf dem Gebiet des Römischen Reiches Frauen getötet, die ihre Söhne beschneiden ließen. Eine Methode bestand darin, die Säuglinge an ihre Mütter zu fesseln und beide von der Stadtmauer zu stürzen.

Dann betraten die Christen die historische Bühne. Jesus, der natürlich beschnitten war, hat sich zu dieser Sitte nicht klar geäußert. Aber der Aufstieg des Christentums zur Weltreligion war nur möglich, weil die Christen vom Beschneidungsgebot Abstand nahmen. Man missionierte fleißig, Konvertiten wollte man nicht zu der Prozedur zwingen. Gleichwohl ließen sich auch die frühen Christen meist beschneiden, bei den Kopten und bei den Äthiopisch-Orthodoxen ist es bis heute Vorschrift. Bis 1962 feierte die Katholische Kirche das Fest der Beschneidung des Herrn, etliche Kirchen stritten sich im Mittelalter darum, wer wohl die „Heilige Vorhaut“ besitzt, das Zipfelchen des Herrn. Verbreitet war aber auch die Ansicht, dass Jesu Vorhaut ihn bei seiner Himmelfahrt begleitet hat und sich dann als gewaltiger Ring um den Planeten Saturn gelegt hat.

Bildergalerie: Die Debatte über das Beschneidungsurteil

Die Deutschen sind vorhautpolitisch zum ersten Mal 1527 in Erscheinung getreten, als ein deutscher Söldner die wichtigste Vorhaut-Reliquie aus dem römischen Lateran gestohlen und danach 30 Jahre lang versteckt hat, warum auch immer. Diese Vorhaut, die definitive Heilige Vorhaut, war im Jahre 800 Papst Leo III. von Karl dem Großen geschenkt worden. 1983 ist die gleiche Heilige Vorhaut aus der Kirche von Calcala zum zweiten Mal gestohlen worden, man sucht sie bis heute. Steckt etwa wieder ein Deutscher dahinter?

Beschneidung senkt das HIV-Risiko um etwa 60 Prozent

Etwa 80 Prozent der Afrikaner und 80 Prozent der Südkoreaner sind beschnitten. In Afrika hatte das nicht religiöse, sondern hygienische Gründe. Heute ist es einfach eine Sitte, dabei spielt aber auch die Tatsache eine Rolle, dass Beschneidung das Risiko einer HIV-Infektion um etwa 60 Prozent senkt. Deshalb empfiehlt auch die Weltgesundheitsorganisation WHO den Eingriff, eine umstrittene Empfehlung, denn wenn die Beschnittenen sich in falscher Sicherheit wiegen, steigt am Ende womöglich die Infektionsrate sogar. In den USA ist der Anteil der beschnittenen Männer leicht rückläufig – 2005 waren es noch 56 Prozent –, was unter anderem mit der steigenden Zahl der katholischen Latinos zusammenhängt.

Die Beschneidung ist also auf der Welt weit verbreitet, nicht nur aus religiösen Gründen. Möglich ist dies nur deswegen, weil der Eingriff recht klein ist und in der Regel keine negativen Folgen hat. Es wird natürlich gelegentlich darüber diskutiert, etliche weltlich eingestellte Juden und Muslime verzichten inzwischen darauf. Aber es hat weltweit noch nie eine Aufregung gegeben, die mit der deutschen Debatte der letzten Wochen vergleichbar wäre. Ich gebe zu, dass mich das misstrauisch macht. Kann es denn sein, dass nur die deutschen Beschneidungsgegner ihre Söhne auf die richtige Weise lieben, dass alle anderen Barbaren, Verstümmler und Kinderquäler sind?

Das kann selbstverständlich sein. Minderheiten können recht haben. In diesem Fall bin ich skeptisch. Mich interessiert der religiöse Aspekt des Themas allerdings stärker, obwohl ich selbst nicht sonderlich religiös bin. Oder vielleicht gerade deshalb. In der Welt meiner Kindheit ist die Kirche noch so mächtig gewesen, dass sie die Aufführung von Filmen verhindern konnte und dass sie Homosexuellen, Geschiedenen oder anderen Sündern jedweder Couleur das Leben schwer machte. Diese Macht, anderen ihre Lebensweise vorzuschreiben, ist stark geschwunden, das begrüße ich sehr. Ob einer glaubt und wie er glaubt, ist inzwischen Privatsache. Mein eigener Glaube ist folkloristisch und mit sentimentalen Kindheitserinnerungen vermischt, ich freue mich über das Geräusch von läutenden Glocken und den Geruch von Weihrauch, in die Kirche gehe ich nur an Weihnachten oder als Tourist.

In der Beschneidungsdebatte ist jetzt ein grundsätzlicher antireligiöser Furor spürbar, eine Tendenz des Verbietens und Vorschriftenmachens, der mich stark an das kirchliche Verbieten und Vorschriftenmachen meiner Kindheit erinnert, nur halt andersherum. Ein Mensch, der glaubt, hat Anspruch auf Respekt und Duldung, und er sollte sich nicht ständig vor den Nichtgläubigen rechtfertigen müssen. Wenn die Ideen der Aufklärung anfangen, totalitär zu werden, ist es Zeit, auf die Bremse zu treten und daran zu erinnern, dass die Achtung vor Andersdenkenden die Grundidee unserer Gesellschaft ist.

Hält unsere Gesellschaft Religion noch aus?

Im Kern geht es in der Beschneidungsdebatte darum, ob die Gesellschaft die Religion noch aushält, oder ob die Religionen, alle, über kurz oder lang in der einen oder anderen Weise unterdrückt werden. Die Religionsgemeinschaften haben das sofort erkannt, deshalb ist es zu der bemerkenswerten Allianz von Christen, Muslimen und Juden gekommen, die sich gemeinsam gegen ein Verbot der Beschneidung aussprechen, obwohl die Christen das ja eigentlich gar nicht betrifft.

Die Eigenart des religiösen Denkens besteht darin, dass es von der Existenz Gottes ausgeht. Gott spricht durch die Heilige Schrift des jeweiligen Glaubens und durch seine Priester mit den Menschen, und das, was Gott verlangt, ist nicht Gegenstand von Diskussion oder Abwägung. Gottes Wort ist, in jeder Religion, Gesetz: „Eure Vorhaut sollt ihr beschneiden. Es soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch.“

Dieses Gesetz kann, anders als deutsche Bundes- und Landesgesetze, nicht alle vier Jahre von einem neu gewählten Religionsparlament wieder geändert werden. So einfach ist das. Und so schwierig für diejenigen, die nicht an einen Gott glauben oder nur pro forma in der Kirche sind, also für die Mehrheit.

Der Glaube ist unvernünftig, Argumente perlen an ihm ab. Wer sich in den zahlreichen Internetforen umschaut, in denen über die Beschneidung diskutiert wurde, immer heftig, oft aggressiv, der kann dort alle möglichen gut gemeinten Vorschläge finden. Was, in aller Welt, sollte denn dagegensprechen, mit der Beschneidung zu warten, bis der Junge erwachsen ist und selber entscheiden kann? Es ist, für den Gläubigen, das Wort Gottes, vermittelt durch die jeweilige Kirche. Wenn der Gläubige das Wort Gottes zum Gegenstand von Verhandlungen macht, dann gibt er den Glauben auf, das heißt, die Hoffnung auf das Paradies.

In seinem sehr erfolgreichen Buch „Tiere essen“, einem Plädoyer gegen die Massentierhaltung, schreibt der amerikanische Autor Jonathan Safran Foer auch über seine Großmutter, die als osteuropäische Jüdin den Zweiten Weltkrieg überlebt hat, immer auf der Flucht vor den Nazis.

Dies ist ein Dialog zwischen Großmutter und Enkel. „Am schlimmsten war es gegen Kriegsende. Viele Menschen starben noch am Ende, und ich wusste nicht, ob ich noch einen Tag überleben konnte. Ein Bauer, ein Russe, Gott schütze ihn, sah, wie es um mich bestellt war, ging in sein Haus und kam mit einem Stück Fleisch für mich zurück.“

„Er hat dir das Leben gerettet.“

„Ich habe es nicht gegessen.“

„Du hast es nicht gegessen?“

„Es war Schwein. Ich würde nie Schwein essen.“

„Warum nicht?“

„Was meinst du wohl, warum nicht?“

„Doch nicht, weil es nicht koscher war?“

„Natürlich.“

„Auch nicht, um dein Leben zu retten?“

„Wenn nichts mehr wichtig ist, gibt es nichts zu retten.“

Das ist Religion. Ein einziger Ausbund an Unvernunft oder sogar Menschenfeindlichkeit – das jüdische Verbot, Schweinefleisch zu essen, auch wenn einer am Verhungern ist. Die, nach modernem Verständnis, übergriffige katholische Beichte, in der Kinder einem Priester über ihre geheimen sexuellen Lüste berichten sollen, ihre „unkeuschen Gedanken“. Das ungesunde Fasten im Ramadan. Oder die Vorschrift der Hindus, alte Kühe eines natürlichen Todes sterben zu lassen, auch kranke und leidende Kühe.

Gulag und Auschwitz wurden von Religionsgegnern erfunden

Die Religion kommt eben von weit her, aus einer Zeit, die unseren Begriff von Vernunft, Menschenrechten und gesundem Lebenswandel nicht kannte. In dieser Zeit war man der Ansicht, dass nicht der Mensch im Zentrum der Welt zu stehen hat, sondern das göttliche Gebot, was immer man dafür hielt. Man tut der Religion Unrecht, wenn man nicht erwähnt, dass sie auch vieles enthält, das sich sehr gut mit modernen Vorstellungen vereinbaren lässt, das Gebot der Nächstenliebe, die Verpflichtung zum Almosen. Im Kern aber stammt Religion, egal welche, aus einer anderen Gedankenwelt als der modernen. Sie hat sich, zumindest in Europa, arrangieren müssen oder freiwillig angepasst, das Christentum mehr, der noch verhältnismäßig junge Islam weniger. Witwenverbrennungen, Steinigungen oder Exorzismus werden trotz Religionsfreiheit in Europa nicht akzeptiert. Das Recht auf – geborenes – Leben stellt der aufgeklärte Staat nicht zur Disposition, abgesehen vom Leben seiner Soldaten.

Mit der Diskussion über die Beschneidung ist nun eine neue Stufe erreicht. Zweifellos widerspricht der Eingriff dem Recht auf körperliche Unversehrtheit, auch wenn er verhältnismäßig harmlos ist, vor allem, wenn man ihn mit dem staatlichen Anspruch auf das Leben der Soldaten vergleicht. Es geht um die Frage, ob, neben dem Individuum und dem Staat, auch noch der Religion in irgendeiner Weise der Zugriff auf den Körper gestattet bleibt, nach ihren eigenen Regeln, ob also die Religion etwas Physisches bleiben darf oder sich ganz und gar auf die Welt des Geistes, auf Beten und Spiritualität zu beschränken hat.

Tatsächlich hat die Religion viel Leid auf die Welt gebracht, die Liste fängt mit den religiösen Kriegen an und führt über die Hexenverbrennungen und die Scharia bis zum islamistischen Terror. Aber bevor man sich in Rage denkt, sollte man sich klarmachen, dass die Guillotine, der Gulag und Auschwitz Erfindungen von Religionsgegnern gewesen sind. Wenn die Religionsausübung als Menschenrecht im Grundgesetz steht, dann auch deshalb, weil sie von Anfang an zum Menschsein gehört hat, fast wie Essen und Trinken. Noch in den ältesten Höhlen unserer Vorfahren finden sich ihre Spuren. Ohne die Hoffnung auf Erlösung und auf ein besseres Jenseits hätte der Mensch nicht die Kraft gehabt, dorthin zu gehen, wo er heute ist.

Von Karl Marx kennen die meisten den Satz, dass Religion „Opium des Volkes“ sei. Tatsächlich hatte Marx eine recht differenzierte Meinung über Religion. Er nannte sie den „Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt“, den „Geist geistloser Zustände“. Marx war der Ansicht, dass die Religion im Kapitalismus nicht dauerhaft überleben kann, weil der Kapitalismus, so steht es im „Kommunistischen Manifest“, „kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig lässt als das nackte Interesse … alles Heilige wird entweiht.“ 1921 schrieb Walter Benjamin das Aufsatzfragment „Kapitalismus als Religion“. Auf die Frage, wie und wofür der Mensch zu leben hat, gebe der Kapitalismus nur eine einzige, allerdings sehr verlockende Antwort: das Geld, den persönlichen Vorteil. Deshalb wird der Kapitalismus, wenn er endgültig und total siegt, die einzige Weltreligion der Zukunft sein.

Dem linken, aufgeklärten Geist Walter Benjamin gefiel diese Aussicht nicht. Und ich muss zugeben, dass sie mir auch nicht gefällt.

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